Das Evangelium nach Satan
menschlichen Schienbein, das so trocken wie Zunder gewesen sein muss, sodass das Feuer es binnen weniger Minuten verzehren konnte. Er steckt den Fund in eine Samthülle und betrachtet den Fußboden genauer. Überall sieht man die schmutzigen Spuren schwerer Reiterstiefel. Sie verdecken die Sandalenabdrücke der Nonnen fast vollständig. Eine Sandalenspur führt an eine Mauer, in der das geschulte Auge des Inquisitors den kaum wahrnehmbaren Umriss einer Geheimtür entdeckt. Er tastet darüber und hat bald den Hebelmechanismus gefunden, mit dem sie sich öffnen lässt. Das Wandstück dreht sich knarrend in seinen Angeln. Ein verborgener Raum. Auch hier Spuren von Sandalen im Staub, Ein Versteck im Boden, das nicht wieder verschlossen worden ist. In der Mitte des Raums sieht er offene Truhen und ein ausgebreitetes Tuch. Unversehens kommt ihm der Gedanke, dass die Knochenreste, die er im Kamin entdeckt hat, zum Skelett des Janus gehören könnten. Allerdings kann er mit Bestimmtheit sagen, dass sich in der Asche weder Zähne noch Stücke von Kieferknochen befunden haben. Er klammert sich an die Hoffnung, dass die Nonne, die in diesem Raum die Reliquien geborgen zu haben scheint, den Schädel und das Evangelium in Sicherheit bringen konnte – immer vorausgesetzt, sie hat die Heimsuchung des Klosters überlebt. Sofern die Reliquien dem Feind in die Hände gefallen sein sollten, würde das eine Katastrophe bedeuten, wie es sie in der Geschichte der Kirche nie zuvor gegeben hat. Würden die in jenem Evangelium enthaltenen Geheimnisse ausgerechnet jetzt bekannt, zu einer Zeit, da die Pest und das allgemeine Chaos herrschen, käme es binnen weniger Wochen zum Ende der Christenheit. Feuer und Schwert würden in Stadt und Land herrschen, man würde Könige und Kaiser stürzen, Heere von Bettlern und Landstreichern würden die Kirchen niederbrennen, die Priester an Bäumen aufhängen und nach Rom ziehen, um den Papst abzusetzen. Eine tausendjährige Finsternis würde sich über die Welt legen. Es wäre die Herrschaft des Tieres.
Als sich Landegaard daranmacht, den geheimen Raum zu verlassen und wieder zu seinen Männern zu stoßen, ertönt aus den oberen Stockwerken ein Hornsignal. Der dorthin entsandte Trupp scheint etwas entdeckt zu haben.
22
Die Gestalt, die durch die Säulenreihen näher kommt, scheint den Boden kaum zu berühren. Sie trägt eine Mönchskutte, deren Kapuze ihr Gesicht vollständig verdeckt.
Valentina stellt sich hinter einen Pfeiler, zieht ihre Beretta, lädt durch und entsichert sie. Der Mönch bewegt sich völlig geräuschlos.
Als er ihrer Schätzung nach auf etwa zwanzig bis dreißig Schritt herangekommen ist, tritt sie hinter dem Pfeiler hervor und visiert die Gestalt an, die da auf sie zukommt: »Stehen bleiben! Polizei!«
Der Mönch reagiert nicht auf den Anruf. Etwas krampft sich in Valentinas Unterleib zusammen. Entweder ist der Kerl taub oder blöd. Sie zieht den Hahn auf Druckpunkt.
»Zum letzten Mal: Bleiben Sie sofort stehen, oder ich schieße!« Sie sieht eine Klinge aufblitzen, als der Mann seinen Arm bewegt. Eine mit Angst vermischte ungeheure Wut erfasst sie.
»Hör jetzt gut zu, du Arschloch: Lass die Waffe fallen, oder ich niete dich um.«
Der Mönch hebt den Kopf. Sie sieht seine Augen im Schatten der Kapuze leuchten. Der freche Kerl grinst auch noch!
In rascher Folge gibt sie vier Schüsse ab, die ihn an der Schulter treffen und dazu veranlassen, mehrere Schritte zurückzuweichen. Aber das ist doch nicht möglich! Jetzt kommt der Mönch erneut auf sie zu. Sie zwingt sich, trotz ihres heftig schlagenden Herzens ruhig durchzuatmen und zielt auf den Oberkörper. Wie beim Übungsschießen geht sie leicht in die Hocke, setzt einen Fuß zurück und jagt alle verbleibenden Kugeln aus dem Lauf. Sie reißen ihm die Brust auf. Blutend stürzt er auf die Knie. Der Pulverrauch brennt ihr in der Nase. Zitternd sieht sie, wie sich der Mönch erneut aufrichtet. Er schwankt, setzt aber seinen Weg fort, wobei er eine Hand vor seine blutenden Wunden hält.
Gott im Himmel, das ist unmöglich …
Mit dem Daumen schleudert sie das leere Magazin heraus, das klirrend zu Boden fällt. Der Mönch ist nur noch zehn Schritt entfernt. Sie schiebt ein frisches Magazin ein und leert es, wobei sie brüllt, so laut sie kann: »In drei Teufels Namen, willst du wohl krepieren, verdammter Schweinehund!«
Unter dem Anprall der Geschosse, die das Gesicht des Mönches zerfetzen, scheint die Kapuze in sich
Weitere Kostenlose Bücher