Das Evangelium nach Satan
bewusste Regal in der Tat alle vier Bände dieses theologischen Standardwerks. Vor dem Titel blinkt der Standort auf. Sie notiert ihn: Reihe 12, Brett 3, Nummer 6.
Sie gibt das nächste Zitat ein, das automatisch in Übersetzung auf dem Bildschirm erscheint. »Dann wird Manna die Fülle vom Himmel regnen.« Es ist ein Auszug aus der Syrischen Apokalypse von Baruch, eine rund hundert Jahre vor Christi Geburt entstandene Sammlung apokalyptischer Schriften: Reihe 50, Brett 11, Nummer 4. Ebenso verfährt sie mit den übrigen Zitaten. Die Augen treten ihr aus dem Kopf, als sie das letzte auf dem Bildschirm entziffert: »Und ich sah aus dem Meer ein Tier aufsteigen, die Welt zu verderben. In seinem Leib enthielt es das höchste Wesen, den Ungerechten, den Sohn der Verdammnis, den die Schrift den Antichristen nennt und der aus dem Nichts kommen wird, um die Welt zu peinigen.«
Das Zitat klingt wie ein Auszug aus der Offenbarung des Johannes. Das Buch steht in Reihe 62, Brett 1, Nummer 2.
Es ist das letzte Werk auf der Liste und müsste, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, bei seinem Vorrücken im Regal den Mechanismus freigeben.
Als Valentina erneut vor der riesigen Regalwand steht, schiebt sie die Leiter vor die Reihe mit der Nummer 12, steigt hinauf und zieht, die Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt, einen der vier in schwarzes Leder gebundenen Bände mit der Summa Theologica des Thomas von Aquin ein Stück vor. Sie lauscht aufmerksam. Ja, sie kann ein feines Geräusch hören, das so ähnlich klingt wie das Knarren eines straff gespannten Stücks Tauwerk auf einem Segelschiff.
Dann schiebt sie die Leiter weiter, von einer Stelle zur anderen. Bei jedem Band, den sie nach vorn zieht, hört sie das gleiche für alte Mechanismen dieser Art kennzeichnende Geräusch. Schließlich rollt sie die Leiter beiseite und stellt sich vor den auf ihrer Augenhöhe stehenden Band mit der Offenbarung des Johannes. Mit angehaltenem Atem zieht sie ihn langsam vor. Sogleich setzt eine Bewegung ein, die sich der ganzen gewaltigen Regalwand mitzuteilen scheint. Sie tritt einige Schritte zurück und hört von irgendwoher ein Knarren wie von Seilscheiben und ein schleifendes Geräusch. Während sich die beiden Hälften der Bücherwand gleich zwei Torflügeln öffnen, wird die Kommissarin von einer dichten Staubwolke eingehüllt.
16
Vor über einem Monat war der Generalinquisitor Landegaard mit seinen Zellenwagen, die über feste Gelasse zum Transport von Gefangenen verfügen, seiner aus Kriegern bestehenden Eskorte und seinen Schreibern von Avignon aus nordwärts geritten. Dort galt es, ostwärts Alpenpässe zu überqueren. In einer Tasche seiner Kutte hatte er eine Liste der Klostergemeinschaften, die er besuchen sollte. Insgesamt waren das zwischen den Ufern der Durance und den fernen Dolomiten vierzehn Mönchs-und Nonnenklöster, die schon seit Längerem nicht mehr auf Weisungen oder Mitteilungen Seiner Heiligkeit reagiert hatten.
Am Ende der sechsten Etappe des Weges, der ihn am Alpenhauptkamm entlangführt, liegt das Felsenkloster am Mons Cervinus vor ihm. Er weiß, dass dort der gefährlichste Teil seines Auftrags auf ihn wartet. Zwar kennt er Mutter Gabriella von Angesicht zu Angesicht und steht dem Schweigeorden, der den höchsten Zielen der Kirche dient, äußerst wohlwollend gegenüber, doch ist ihm zugleich auch bewusst, dass dieses Kloster mit dem Satansevangelium und den Überresten des Janus zwei Reliquien hütet, auf die es zahllose Feinde des Glaubens abgesehen haben. Gerade deshalb scheint es ihm besonders besorgniserregend, dass man seit dem Ausbruch der Pest nichts mehr von den Weltfernen Schwestern gehört hat, und aus diesem Grund gilt sein besonderes Augenmerk dieser sechsten Etappe. Vergebens hatte er Seine Heiligkeit gebeten, sich von Avignon aus ohne Umwege dorthin begeben zu dürfen, doch hatte Papst Klemens eingewendet, es könne die Aufmerksamkeit unerwünschter Elemente erregen, wenn er nicht zuvor andere Kongregationen, die am Wege lagen, besuchte, damit das Ganze wie eine der üblichen Inspektionsreisen aussah. Die wahre Aufgabe der Weltfernen Schwestern dürfe auf keinen Fall bekannt werden.
Wenige Stunden nach seinem Aufbruch aus der Stadt der Päpste war er mit seinen Leuten an den letzten offenen Massengräbern auf provenzalischem Boden vorübergekommen, von deren Rand aus zu Tode erschöpfte Männer ungelöschten Kalk über ungezählte Leichen streuten. Danach waren sie auf ihrem Zug auf keine
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