Das Evangelium nach Satan
überlagert ein Hauch nach Zimt und Tabak: Ballestras Toilettenwasser. Den tiefen Abdrücken seiner Füße an einigen Stellen nach zu urteilen, ist er mehrfach stehen geblieben, vielleicht um sich den Verlauf des Gangs einzuprägen.
Als sich der Hall ihrer Schritte immer weiter zu entfernen scheint und die Wände auseinanderweichen, stellt sie das Nachtsichtgerät auf volle Stärke. Aufmerksam sieht sie auf den maßstabgetreuen Plan des unterirdischen Roms, den sie bei sich führt. Schon seit der Antike durchziehen Katakomben den gesamten Untergrund der Stadt, und so manche der Gänge, die verschiedene Stellen der Stadtmitte miteinander verbinden, zum Beispiel die Ruinen des Senats und des Kaiserpalasts, gehen schon auf Kaiser Neros Zeiten zurück. Weitere unterirdische Gänge, die meisten von ihnen inzwischen eingestürzt, verbanden einst die sieben Hügel der Stadt miteinander, während die neueren zwischen den verschiedenen Gebäuden des Vatikans und den außerhalb der Stadtmauern gelegenen Kirchenbauten verliefen.
Doch so genau ihr Plan auch sein mag, den Gang, in dem sie sich befindet und der als punktierte Linie unterhalb des Petersplatzes verlaufen müsste, sucht sie darauf vergeblich. Der Zahl der Schritte nach zu urteilen, die sie in der Finsternis zurückgelegt hat, wobei sich der Weg zweimal gekrümmt hat, müsste die Halle der Siegel irgendwo unterhalb der Peterskirche liegen.
Besonders merkwürdig scheint es ihr, dass dieser riesige Raum nirgendwo auf dem Plan verzeichnet ist, den sie jetzt vor sich ausbreitet, während die Grotten unter dem Vatikan, in denen die Päpste beigesetzt werden, deutlich darauf zu sehen sind. Das kann nur bedeuten, dass man sowohl diese Halle wie auch den Gang, der dorthin führt, unter allergrößter Geheimhaltung angelegt hat. Erstaunlich, dass dies Geheimnis, das einen alten Mann das Leben gekostet hat, die Jahrhunderte überdauern konnte.
Sie geht weiter bis in die Mitte des Raums. Ihrer Berechnung nach müsste sie sich jetzt genau unter dem Grab des Apostels Petrus befinden, nur wenige Meter von dort entfernt, wo der Leichnam des Papstes in einem Katafalk ausgestellt ist, an dem die endlose Schar der Gläubigen vorüberzieht. Sie legt das Ohr an einen der Pfeiler und hört von fern die Töne der Orgel. Sie stellt sich vor, wie über ihr die Füße derer über den Boden scharren, die sich langsam dem Katafalk nähern. Ein Strom gepeinigter Seelen, der unter den Klängen von Pergolesis Stabat Mater, die wie Tränen im Weihrauchduft hängen, Schritt für Schritt vorrückt.
Sie sieht sich aufmerksam um. Soweit das Auge reicht, stehen überall zwischen den Pfeilern mit rotem Samt verhängte tabernakelähnliche Gebilde aus Marmor, an deren oberem Rand jeweils der Name eines Papstes eingemeißelt ist. Sie hebt die Vorhänge vor einigen von ihnen an. Sie sind leer. Jener Carzo hatte am Telefon zu Ballestra gesagt, die Kirche bewahre dort seit frühester Zeit ihre wichtigsten Geheimnisse auf. Unverkennbar hat der Mörder dem Archivar hier aufgelauert, denn der Boden vor der Nische des Papstes Pius X. ist über und über mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Hier hat man den Archivar gefoltert, ihm die Zunge herausgeschnitten und ihn danach in die Basilika geschleppt. Valentina folgt mit den Augen der Blutspur, die sich zum hinteren Ende des Raums zieht. Dabei sieht sie dank ihres Nachtsichtgeräts unter dem Pult vor der Nische etwas blinken. Sie beugt sich hinab und verzieht den Mund zu einem Lächeln. Offensichtlich war Ballestras Mörder so sehr damit beschäftigt, den Inhalt der Nischen beiseitezuschaffen, dass ihm das digitale Diktiergerät entgangen ist, das sein Opfer entweder auf den Boden gelegt oder verloren hatte. Sie nimmt es auf, lässt die Aufnahme zurücklaufen und drückt auf die Abspieltaste. Nach einem Signalton hört sie Ballestras entgeistertes Flüstern in der Finsternis.
19
»Maria?«
Ein Dampfwölkchen kommt aus den halb geöffneten Lippen der jungen Frau, die stoßweise atmet. Carzo zittert vor Kälte. Seit einigen Minuten ist die Temperatur im Refektorium so rasch gesunken, als sei eine Kältewelle im Anzug. Aber der Grund dafür ist ein anderer. Es ist etwas, das Carzo ebenso nachdrücklich von sich zu weisen versucht wie die Beobachtung, dass die Farbe der Wände im Begriff steht, sich ebenso zu ändern wie die Gerüche um ihn herum. Es riecht nicht nur nach Wolle und Dung, auch menschliche Ausdünstungen wehen mit der Erinnerung an die Nonnen
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