Das Evangelium nach Satan
Stimme flüstert im Dunkeln: »Keine Sorge, kleine Hure. Ich weiß genau, dass du nicht schläfst. Du tust nur so.«
Maria spürt Mr. Fletchers eiskalte Lippen unmittelbar neben den ihren. Eine Träne des Entsetzens blitzt in ihrem Augenwinkel auf und will unter den Wimpern hervorquellen. Ihr ist klar, dass sie sie nicht zurückhalten kann.
»Na schön, meine liebe Jessica, mal sehen, ob das stimmt.
Ich puste dir jetzt auf die Augen. Wenn deine Lider dann zucken, weiß ich, dass du nicht schläfst.«
Mit aller Kraft ballt Maria die Fäuste, um die Tränen zurückzuhalten. Sie spürt den leichten Luftstrom aus dem Mund von Jessicas Vater auf ihren Lidern. Ein Zittern. Die Träne kommt hervor und läuft ihr über die Wange. Befriedigt lächelt Mr. Fletcher im Dunkeln.
»Jetzt wissen wir beide, dass du nur so tust. Such dir ein gutes Versteck, ich zähle bis dreißig. Wenn ich dich finde, bring ich dich um.«
Maria kann sich nicht rühren. Sie hört Mr. Fletchers Stimme, der im Dunkeln zu zählen beginnt. Sie spürt, wie sich das Schlafmittel erneut bemerkbar macht und die Herrschaft über ihr Gehirn allmählich zurückgewinnt. Die Stimme entfernt sich. Das Messer hebt sich, die Klinge blitzt im Dunkeln auf. Mr. Fletcher ist mit Zählen fertig. Zitternd spürt Maria, wie die Klinge durch ihre Haut bis in die Eingeweide dringt. Ein fernes Brennen, mehr die Erinnerung daran als wirklicher Schmerz. Es ist so weit, das Schlafmittel wirkt erneut. Der Albtraum zerrinnt, die Bilder zerfallen in ihre Einzelteile. Erneut tritt Maria in die Finsternis ein. Das war der mitternächtliche Albtraum.
4
Begonnen hatten Marias Albträume nach einem Verkehrsunfall, bei dem ihr Wohnmobil ungebremst gegen Baumstämme geprallt war. Ihr Lebensgefährte Mark hatte am Steuer gesessen, und im Kindersitz zwischen ihnen die kleine Rebecca. Sie kamen von der Haus-Einweihungsfeier von Marks Jugendfreund Patrick Hanks, der sich in einem vornehmen New Yorker Vorort ein riesiges Haus mit parkähnlichem Grundstück und golfspielenden Nachbarn gekauft hatte – Geld spielte allem Anschein nach keine Rolle. Kein Wunder, denn vor Kurzem war Hanks in einer der großen Geldhäuser an der Wall Street in die Vorstandsetage aufgerückt, womit sich sein Gehalt auf einen Schlag verdreifacht hatte. Zu seiner neuen Position gehörte nicht nur ein Cadillac als Dienstwagen und eine mehr als großzügige Absicherung für den Krankheitsfall, sondern offensichtlich auch die Verpflichtung, sich für ein paar Millionen Dollar ein großes Haus mit Säulenvorhalle zu leisten. Als Mark mit Maria und Rebecca angekommen war, hatte ihn das Ehepaar Hanks aufgefordert, das klapprige Wohnmobil in die Garage zu fahren. Sie schienen zu fürchten, die Nachbarn könnten sonst auf den Gedanken kommen, fahrendes Volk stünde im Begriff, sich in der feinen Nachbarschaft häuslich niederzulassen. Als er den Wagen in die Garage gefahren hatte, in der ohne Weiteres noch mindestens drei weitere Wohnmobile Platz gehabt hätten, war er sich vorgekommen wie in einer Kathedrale. Er hatte seine Aggressionen heruntergeschluckt, im Lauf des Abends etwas zu viel getrunken und auf dem Heimweg angefangen, mit Maria zu streiten. Außerdem war er zu schnell gefahren, viel zu schnell.
Wenige Kilometer vor Boston war es dann auf der Interstate 90 zu dem Unfall gekommen. Der Fahrer eines mit Langholz beladenen Schwerlasters hatte auf Glatteis die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren. Dabei waren mehrere dicke Baumstämme über den Trennstreifen hinweg auf die Gegenfahrbahn gerollt. Mark hatte nicht einmal Zeit gehabt zu bremsen. Maria sah noch genau vor sich, wie mit einem Mal das Hindernis vor ihnen aufgetaucht war. Die Sekunde unmittelbar vor dem Aufprall war wie in Zeitlupe tief in ihr Gedächtnis gegraben. Diese Bilder tauchten immer wieder vor ihrem inneren Auge auf, wie Blitze im Dunkeln.
So heftig war der Aufprall gewesen, dass sich Maria vorgekommen war wie ein zerplatzender Spiegel. Das Fahrerhaus des Wohnmobils war vollständig zerfetzt worden. Gleich den Millionen von Glassplittern auf dem Asphalt waren Marias Erinnerungen in Millionen von winzigen Einzelteilen zerborsten: Gerüche aus der Kindheit, Farben, Bilder … Ihr ganzes Leben war ihr entflohen. Ihr Herzschlag hatte sich immer mehr verlangsamt. Dann unendliche Kälte.
5
Zwei volle Monate hatte Maria im Charity Hospital von Boston auf der Intensivstation im Koma gelegen. In dieser Zeit war sie in den Tiefen ihres Gehirns
Weitere Kostenlose Bücher