Das Evangelium nach Satan
haben. Doch selbst wenn es sich so verhielt, hätte irgendjemand etwas vom Verschwinden des Kindes bemerken müssen. Aber es gab nichts. Als hätte eine Windhose die Kleine mit sich fortgerissen oder als wäre sie vom Treibsand verschlungen worden.
Maria war nach Vermont geflogen und mit einem Mietwagen nach Bennington weitergefahren. Dort hatte sie Leute auf der Straße befragt und war Hunderte von Malen den Weg von der Schule zum Haus der Familie Johnson gegangen. Nicht der kleinste Fingerzeig hatte sich ergeben, nicht die geringste Spur. Nichts wies auf die Existenz des Mädchens hin – man hätte glauben können, das Kind in seinem orangefarbenen Anorak und seinen gelben Turnschuhen habe niemals in Bennington gelebt.
Erschöpft und enttäuscht hatte sich Maria ein Zimmer in einem Motel am Ortsausgang genommen. In jener Nacht hatte sie von Meredith geträumt.
8
Maria Parks ist bei der Talkshow von Larry King eingeschlafen und einige Stunden später auf einem vom Mond beschienenen Stoppelfeld wieder aufgewacht.
Es ist kalt. Schon vor Wochen hat man den Acker abgeerntet. Im Schlaf nimmt sie einen Geruch wie von verbranntem Brot wahr. Er scheint der Erde zu entströmen. Dann schlägt sie die Augen auf und sieht am Horizont eine Gestalt: Ein kleines Mädchen in einem orangefarbenen Anorak geht am Rand eines dichten Waldes entlang, in den weder Licht noch Geräusche dringen. Es ist Meredith. Als Maria sie rufen will, hört sie hinter sich auf dem verbrannten Boden Geräusche. Sie dreht sich um und sieht, dass ein riesiger schwarzer Hund auf sie zukommt, ein alter Rottweiler, der im Laufen laut mit den Zähnen ins Leere schnappt. Geifer trieft von seinen Lefzen. Maria zieht ihre Dienstpistole, eine Glock, geht in die Hocke, wartet, bis er nahe genug herangekommen ist und feuert dann ein ganzes Magazin auf ihn ab. Obwohl die Geschosse vom Kaliber neun Millimeter dem Hund riesige Löcher in das Fell reißen, scheinen sie ihn nicht aufhalten zu können. Er rennt an Maria vorüber, auf Meredith zu, die ihn jetzt ebenfalls gesehen hat.
Maria ruft der Kleinen zu, sie solle auf keinen Fall in den Wald gehen, denn von dort ist das Untier gekommen, das die Kleine jetzt dazu bringen will, Schutz unter den Bäumen zu suchen. Sie fordert Meredith auf, die Augen zu schließen, denn dann werde der Hund verschwinden, der in Wirklichkeit nicht existiere. Doch der Wind weht ihr entgegen, und so kann Meredith sie nicht hören.
Sie versucht, auf das Kind zuzulaufen, aber ihre Beine sind so schwer, dass sie sie kaum heben kann, wie das oft in Träumen der Fall ist. Sie sieht, wie sich die Zweige teilen und das verängstigte Kind im Wald verschwindet. Der Rottweiler folgt ihr. Die Zweige schließen sich hinter ihm wie Arme, die sich verschränken. In der Ferne ertönt Geheul. Maria spürt das Entsetzen des Mädchens. Jetzt hat auch sie den Waldrand erreicht und versucht, das Dornengerank zu zerteilen, das ihr den Weg versperrt. Meredith ruft um Hilfe. Sie wehrt sich. Sie kann nicht mehr. Sie schreit ein letztes Mal, dann herrscht drückendes Schweigen. Der Wind raschelt im Laub.
Das war Marias erste Vision.
9
An den folgenden Tagen hatten Marias Träume immer mehr Einzelheiten über das Schicksal der kleinen Meredith zutage gefördert, waren immer genauer geworden, so, als beginne sie nach und nach alles durch die Sinne des Mädchens wahrzunehmen: den Duft der Blumen, den Hauch des Windes, den Atem des Waldes.
Eines Nachts dann war sie ganz und gar in die Haut der Kleinen geschlüpft. Es hatte sich ganz von selbst ergeben. Sie hatte weder geträumt, dass sie Meredith sehe, noch, dass sie ihr in einen finsteren Wald folge, nein, sie hatte sich in das Mädchen verwandelt. Die Gedanken des Kindes waren in ihrem Kopf, seine Ängste wie seine Freuden, sie hatte dessen kleinen gerundeten Bauch, die Warze unter der Fußsohle, die es seit Wochen humpeln ließ, seine Sorgen und seine Kleinmädchen-Geheimnisse. All das gehörte jetzt auch Maria. Maria-Meredith. Meredith-Maria.
An dem Tag, an dem sich Meredith in den Wald geflüchtet hatte, war sie gerade acht Jahre alt, trug einen orangefarbenen Anorak, in dessen Tasche alte Pfefferminzbonbons klebten, hatte einen Schnupfen, der ihr die Nase verstopfte.
Die Knie taten ihr weh, weil ihre beste Freundin Jenny sie in einem Wutanfall auf dem Schulhof umgerempelt hatte.
So sah Marias erste richtige Vision aus. Das war kein undeutlicher Traum mehr, es waren auch keine von unangenehmen
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