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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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und Rebecca den Unfall nicht überlebt hatten. Mark hatte mehrere Tage lang in einem Zimmer nahe dem ihren mit dem Tod gerungen. Die kleine Rebecca war durch den Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden, und die Rettungshelfer hatten von ihr nur einige verkohlte Überreste gefunden. Maria hatte weder eine Erinnerung an die Gesichter der beiden noch an ihr eigenes. Als sie zum ersten Mal aufgestanden war, hatte sie sich im Spiegel über dem Waschbecken nicht wiedererkannt. Die langen schwarzen Haare, die porzellanfarbene Haut und die großen grauen Augen, die sie musterten, der flache Unterleib, der Schoß und die Oberschenkel, an denen sie mit den Fingern entlanggefahren war, um sie wiederzuerkennen, die Arme mit ihren schmerzenden Muskeln und die Puppenhände, die sie vor ihren Augen hin und her gewendet hatte, gehörten ihr nicht. Es war ihr vorgekommen, als sei all das nichts als eine Hülle aus Haut und Muskeln, die man über ihren wirklichen Leib gezogen hatte wie einen Ganzkörperanzug, den sie sich mit den Fingernägeln herunterzureißen versuchte.
    Dreißig Monate Reha. Dreißig Monate, in denen sie erneut lernen musste zu sprechen, zu gehen und zu denken. Dreißig Monate auf der Suche nach Gründen zum Weiterleben. Dann war Maria wieder zu ihrer Einheit bei der Bundespolizei zurückgekehrt.

6
    Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte man sie beim FBI von Boston dem Suchdienst für vermisste Personen zugewiesen. Kinder verschwanden von einem Augenblick auf den anderen, ohne dass jemand sie gesehen hätte, kein Nachbar, kein Stadtstreicher, nicht einmal der Briefträger oder der Milchmann. Nachdem das Kind am Küchentisch etwas gegessen und getrunken hat, setzt es sich auf sein nagelneues Mountainbike und fährt davon. Der Junge hat sich seine Lieblings-Baseballmütze aufgesetzt und die Eintrittskarten für ein Spiel der Yankees oder Dodgers in die Gesäßtasche geschoben. Die Mutter hat ihm eine Dose Cola und ein in Zellophanpapier gewickeltes Erdnuss-Sandwich in den Rucksack gesteckt. Er rast die Straße entlang, hält an der Kreuzung kurz an, weil die Ampel rot zeigt, und biegt nach links ab. Danach verschwindet er, wie vom Asphalt verschluckt.
    Während Maria Parks in ihrem Büro in Boston die frischen Vermisstenakten durchging, die auf ihrem Schreibtisch gelandet waren, stieß sie auf die eines kleinen Mädchens, bei dem die zwei Wochen vergeblicher Suche gerade abgelaufen waren. Dabei hatte sie ihre erste Vision.

7
    Marias erste Vision hieß Meredith, Meredith Johnson. Eine Achtjährige, die zwei Wochen zuvor auf dem Schulweg verschwunden war. Wie in solchen Fällen üblich, hatte man mit Ketten von Beamten Waldgebiete gründlich durchsucht und war mit dem Schleppnetz durch Teiche gegangen. Ein Kind, verschwunden wie Hunderte vor ihm, dessen Spur sich von einem Augenblick auf den anderen verlor.
    Meredith wohnte in Bennington, einem gottverlassenen Nest in den grünen Hügeln des Staates Vermont. Ein rundgesichtiges blondes Mädchen, dessen Pummeligkeit auf eine Vorliebe für Milchshakes und Hamburger zurückging.
    Am Tag ihres Verschwindens hatte sie gelbe Adidas-Schuhe und den gleichen orangefarbenen Anorak wie auf den Fotos getragen, die ihre blitzende Zahnspange zeigten. Noch auffälliger als ihre äußere Erscheinung aber schien es Maria, dass es keinerlei Zeugenaussage gab. Als könnte ein kleines Mädchen mit gelben Turnschuhen und einem orangefarbenen Anorak einfach verschwinden, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Das kam Maria verdächtig vor. Ein so auffällig gekleidetes Kind, das mutterseelenallein durch die Straße eines Ortes geht, in dem es vom Tag seiner Geburt an gelebt hat, muss zwangsläufig irgendwann im Gesichtsfeld des einen oder anderen Bewohners auftauchen, im Rückspiegel eines Autos oder durch den Vorhang eines Küchenfensters wahrgenommen werden. Wie bei Benny Madigan gibt es immer irgendeine alte Dame, die ihren Hund ausführt, einen Hausierer, einen städtischen Arbeiter, der mit seinem Laubsauger hantiert, oder einen Kundendiensttechniker für Haushaltgeräte, der ein solches Kind sieht und die Erinnerung daran in irgendeinem Winkel seines Gedächtnisses mit sich herumträgt. Immer. Außer im Fall Meredith Johnson. Genau das machte die Sache verdächtig. Als hätte ein Serienmörder das Verschwinden des Kindes wochenlang geplant. Es musste jemand sein, der das Mädchen kannte oder zumindest in Bennington wohnte. Er musste sie Tag um Tag genauestens beobachtet

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