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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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eine weitere Schwerkranke, der ein in den Hals eingeführter Schlauch den Bronchialschleim absaugte. Maria war näher zur alten Hazel getreten. Der Ausdruck in ihren Augen war so freundlich, dass sie sich neben sie gesetzt hatte. Mit einem Mal hatte die Sterbende Marias Hände so fest umklammert, dass ihre Gelenke knackten. Hass hatte ihre Lippen verzerrt, während aus der Kanüle in ihrer Kehle eine metallische Stimme sie anfuhr: »Wer bist du, verdammte Hure, und wieso siehst du mich? Das dürftest du gar nicht! Hörst du mich? Du kannst mich nicht sehen!«
    Mit aller Kraft hatte sich Maria der Umklammerung durch die Verrückte zu entziehen versucht. Dann hatte Hazel von einem Augenblick auf den anderen losgelassen, und Maria war davongerannt, auf dem Gang auf eine Schwester zugestürzt und hatte in ihren Armen geschluchzt, die verrückte Alte aus 789 habe sie umbringen wollen.
    »Was für eine verrückte Alte?«
    »Hazel. Der Name steht jedenfalls am Kopfende.«
    Eine Weile hatte die Schwester nichts gesagt, doch Maria hatte gespürt, dass sich der Puls der Frau beschleunigte.
    »Martha Hazel aus 789?«
    »Ja.«
    »Ich werde einen Arzt rufen, damit der Ihnen ein Beruhigungsmittel gibt, meine Liebe. Bis dahin sollten Sie sich hinlegen und ausruhen.«
    Maria hatte sich von ihr losgerissen. »Aber wenn ich Ihnen doch sage, dass sie versucht hat, mich umzubringen.«
    »Das ist unmöglich.«
    »Wieso?«
    »Weil sie seit über einer Woche tot ist, mein Kind.«
    Maria hatte den Kopf geschüttelt, dann die Hand der Schwester ergriffen und sie zum Zimmer gezerrt.
    Bei ihrem Eintritt hatte die alte Hazel nackt im Schneidersitz auf ihrem Bett gesessen.
    Man konnte deutlich ihre welken Brüste und das Schamhaar zwischen ihren abgemagerten Schenkeln sehen. In ihren von Nikotin gebräunten Fingern hatte sie eine Zigarette gehalten, und bei jedem Zug, den sie machte, war ein dünner Rauchfaden aus der Kanüle in ihrem Hals aufgestiegen. Entsetzt war Maria stehen geblieben und hatte mit dem Finger gewiesen: »Was hab ich Ihnen gesagt! Die da wollte mich umbringen.«
    Doch als die Schwester mit den Blicken Marias Finger folgte, hatte sie nichts als das leere Bett gesehen. Auf der Matratze lag ein dicker Schonbezug aus Kunststoff, und das Beatmungsgerät war längst fortgeschafft worden. Sie hatte Maria die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Quälen Sie sich nicht unnötig. In dem Bett ist niemand. Ich hab Ihnen ja gesagt, dass die Frau schon seit einer Woche tot ist. Tot und begraben.«
    Maria hatte die Stimme der Krankenschwester kaum wahrgenommen und sich bemüht, die bläulich angelaufenen Spuren an ihren Handgelenken zu verbergen. Dann hatte sie den Blick fest auf Martha Hazel gerichtet, die sie durch den Rauch ihrer Zigarette musterte. Erneut war die metallisch klingende Stimme aus dem Laryngophon gedrungen: »Gib dir keine Mühe, liebe Maria, die fette Kuh da kann mich nicht sehen und hören. Du bist von den Toten zurückgekehrt und hast einen Teil von dir dagelassen. Deshalb siehst du mich. Aber ich seh dich auch, verdammte kleine Hure. Ich seh dich unscharf, aber ich seh dich.«
    Bei einem Hustenanfall hatte sich die Alte vorgebeugt, und ein Blutfaden war ihr über Kinn und Hals gelaufen.
    »So ein Mist, meine Fluppen schmecken überhaupt nicht mehr, trotzdem huste ich immer noch, obwohl ich tot bin. Sollte man das für möglich halten?«
    Dann war Maria, während ihr Martha Hazel mit breitem Lächeln zusah, in den Armen der Krankenschwester ohnmächtig geworden.
    Während Maria heftig auf die Bremse tritt, um einen Pick-up, der sie zu knapp überholt hat, das Einordnen vor sich zu ermöglichen, zittert sie bei der Erinnerung an die alte Hazel: ihre erste Tote. Seither hatte sie viele weitere gesehen. Tote, die durch die Straßen spazierten, Tote, die reglos auf Kaffeehausterrassen saßen, verweste Kinder, die auf Schulhöfen Seilhüpfen spielten, Greise, die über Friedhöfe irrten, und längst zerfallene Frauen in ihrem Kleid aus früheren Zeiten, die inmitten der Gäste vornehmer Restaurants Staub aus Weingläsern schlürften. Tote, die keine Ruhe fanden, weil sie den Weg ins Jenseits nicht gefunden hatten.
    Sie verlässt die Interstate 70 und fährt über die Colfax Avenue zum Zoo von Denver. Auf den Rasenflächen bleiben die ersten Schneeflocken liegen. Dann biegt sie in die Stout Street ein. An der Abzweigung der Brighton Street hat der Fahrer eines Pick-ups den großartigen Einfall, ihr genau gegenüber dem

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