Das Evangelium nach Satan
völlig verlassen sind. Die eisernen Gitter vor den Geschäften sind heruntergelassen. Um die Verkaufswagen der Gewürzhändler auf den Gehwegen scheint sich ebenfalls niemand zu kümmern. Nur einige zerlumpte alte Mestizinnen, die halb nackte Kinder hinter sich herziehen, sind noch zu sehen. Carzo hält eine von ihnen am Ärmel fest und fragt sie, was da vor sich geht.
Die Alte weist zum Himmel und erklärt mit zischelnder Stimme, dass sich ein Gewitter nähere. Als sie Carzos Brustkreuz sieht, sinkt sie auf die Knie und küsst ihm die Hand. Er merkt, wie ihre heißen Tränen darüber laufen. Sie scheint zutiefst verängstigt zu sein.
»O Diabo! O Diabo entrou na igreja!«
Unaufhörlich wiederholt sie die Worte »Der Teufel ist in der Kirche«, während sie dem Priester mit zitternden Lippen die Hand küsst. Carzo sieht in die von ihr angegebene Richtung und spürt, wie ihm die Haare zu Berge stehen. Treppe und Vorplatz der Kathedrale sind vollständig von Vögeln bedeckt. Ein Heer aus Schnäbeln und buntem Gefieder scheint den Eingang zu bewachen. Zahllose Kolibris und Papageien fliegen dicht über dem Boden die ganze breite Prachtstraße entlang, wirbeln im Luftstrom hin und her, als gehorchten sie einer Stimme, die ihnen befiehlt, den Zugang zur Kathedrale zu versperren. Ein eiskalter Windstoß fegt vorüber. Es kommt Carzo vor, als erstarrten die Schweißtropfen auf seiner Stirn zu Eis.
Als er seinen Weg fortsetzen will, spürt er, wie sich die Hand der Alten mit überraschender Kraft um seine Finger krallt. Vor Schmerz verzieht er das Gesicht und versucht, sich ihr zu entziehen. Als ihm das nicht gelingt, packt er die Alte an den Haaren, sodass sie den Kopf heben muss. Ihre Augen sind weiß, die Züge ihres Gesichts verformt, als hätte man eine Wachsmaske über eine Flamme gehalten. Eine leblose Stimme dringt über ihre reglosen Lippen: »Geh nicht hinein, Carzo. Ich hatte dir gesagt, dass du dich aus der Sache heraushalten sollst. Ich hatte dir gesagt, komm mir nicht in die Quere. Aber du wolltest nicht auf mich hören.«
Zitternd erkennt er die Stimme, die in San Francisco aus dem Telefon gekommen war. Der Kopf der Mestizin sinkt wieder hinab. Sie lässt die Hand des Priesters los und verharrt in der Mitte der breiten Straße auf den Knien.
Der Exorzist ergreift das Amulett, um die Geister des Urwalds zu Hilfe zu rufen, und geht in Richtung auf die Vögel weiter, deren wimmelnde Masse sich unter wütendem Kreischen dichter aneinanderdrängt. Die Papageien fliegen in wenigen Zentimetern Entfernung an seinem Gesicht vorüber. Als er den Fuß auf die erste Stufe setzt, hört ihr Gekreisch mit einem Schlag auf. Der Himmel über der Kathedrale ist jetzt schwarz, und der Wind, der über den Platz fegt, wirbelt Staub auf.
Der Exorzist mustert die Fassade des Gebäudes. Mit wildem Flügelschlag haben sich die Vögel auf die Türme und den Dachrand zurückgezogen, wo sie sich im Gleichgewicht zu halten versuchen, und senden einen wahren Sprühregen von Kot auf ihre Artgenossen hinab, die auf dem Vorplatz geblieben sind. Gerade als Carzo den Fuß auf die zweite Stufe setzen will, schlägt eine Glocke der Kathedrale, woraufhin eine ganze Wolke von Tauben auffliegt.
Mit schwerem Schritt ersteigt er die letzten Stufen. Bei seinem Voranschreiten weichen die Vögel aus, schließen hinter ihm aber sofort wieder die Lücke. Während er über diesen lebenden Weg dem Portal entgegenstrebt, fällt ihm unablässig Taubenkot auf Schultern, Haare und Gesicht, sodass er mehrfach genötigt ist, mit dem Ärmel seiner Kutte darüberzuwischen.
4
Die erste Tote hatte Maria Parks einige Tage nach dem Erwachen aus dem Koma gesehen, und zwar die alte Hazel aus Zimmer 789 am Ende des Gangs. Sie hatte ein Hautkarzinom so groß wie ein Golfball, dessen Metastasen in ihrem ganzen Körper wucherten, und würde nicht mehr lange leben. Maria war vor der Tür stehen geblieben und hatte zu der an ihr Bett fixierten Hazel hineingeschaut, zu deren Armen und Rumpf Schläuche liefen. Neben dem Bett stand ein Beatmungsgerät, das mit jedem Hub einige hundert Milliliter Sauerstoff in ihre von vierzig Jahren Rauchen fast vollständig zugesetzte Lunge pumpte. Jeden dieser Sauerstoffstöße quittierte die alte Hazel mit einem heftigen Hustenanfall.
Mit weit offenen Augen, in denen Leid und Trauer lagen, hatte sie Maria zugewinkt, die daraufhin auf Zehenspitzen eingetreten war. Im Zimmer roch es nach Formalin. Auf dem Bett neben Hazel wimmerte
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