Das Evangelium nach Satan
Bei der Vorstellung, mindestens eine Nacht in zweitausendfünfhundert Metern Höhe in einer Gemeinschaft verbringen zu müssen, die im Mittelalter lebt und sich in erster Linie damit beschäftigt, satanistische Werke zu studieren, überläuft es sie kalt. Wenn man bedenkt, mit was für Schauergeschichten die alten Hexen da in Berührung kommen, braucht man sich eigentlich nicht zu wundern, wenn die eine oder andere von ihnen durchdreht. Sie stellt sich eine Meldung auf der ersten Seite der Holy Cross News vor:
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Mord im Kloster: Nachdem das mehrtägige Toben eines entsetzlichen Schneesturms abgeflaut ist, hat die Polizei von Holy Cross die Überreste von Maria Megan Parks entdeckt, einer Sonderfahnderin des FBI, deren Aufgabe in erster Linie die Verfolgung von Serienmördern war. Erste Untersuchungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass die junge Frau, die im Kloster von Holy Cross Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatte, im Verlauf einer außer Kontrolle geratenen Teufelsaustreibung durch die Nonnen bei lebendigem Leibe Opfer einer kannibalistischen Orgie geworden ist.
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»Hör doch mit dem Quatsch auf, Maria …«
Um sich selbst Mut zu machen, hat sie das laut vor sich hin gesagt, doch erschrickt sie beim rauen Klang ihrer Stimme. Mit einem Blick in den Rückspiegel vergewissert sie sich, dass die Sitze hinter ihr leer sind. Dann entspannt sie sich wieder und konzentriert sich erneut auf die Straße.
Genau genommen machen ihr weder die Weltfernen Schwestern noch die Vorstellung Sorge, eine oder zwei Nächte in den Bergen verbringen zu müssen. Wohl aber jagt ihr das Bewusstsein Entsetzen ein, dass Kaleb nicht tot ist und sein Geist sie verfolgt. Die Angst, die sie empfindet, kennt jeder, der sich nachts allein auf einem menschenleeren Parkplatz aufhält. Sie fällt Menschen von einem Augenblick auf den nächsten an, wenn sie an gar nichts Besonderes denken. Man dreht sich um, sieht aber niemanden. Eine unerklärliche Beklemmung greift nach dem Herzen, der kalte Hauch wütender Leichen, der Luftstrom, den sie verursachen, wenn sie in der Dunkelheit dicht an einem vorüberstreichen. Ein solches Gefühl hat Maria seit dem Abflug von Boston: Sie spürt den Hauch Kalebs. Außer den blitzartig auftauchenden Vorstellungen, bei denen sie sich an die Stelle der Opfer von Serienmördern versetzt fühlt, wird sie mitunter von noch schwerer ertragbaren Visionen heimgesucht. Sie hat mit niemandem je darüber gesprochen, nicht einmal mit Hans Zimmer, dem Arzt, der seinerzeit in Kalifornien ihr »reaktionelles mediales Syndrom« diagnostiziert hat. Seit sie aus dem Koma aufgewacht ist, geschieht es von Zeit zu Zeit, dass sie Tote sieht.
3
Manaus. Die Piroge ist vom Hauptstrom des Rio Negro in einen Seitenarm eingebogen, der bis in die Stadt vordringt. Sie macht an einem schwimmenden Anleger fest. Dort liegen Fluss-Schiffe, an deren Deck Hängematten aufgespannt sind, und die flachbödigen Boote der Piranha-Fischer Seite an Seite. Carzo sieht zum Landesteg empor. Sonderbare Nebelwolken stehen im Begriff, die Stadt einzuhüllen.
»Das Übel breitet sich aus.«
Er wendet sich Pastor Steiner zu, der, den Strohhut auf dem Kopf, mitten in der Piroge steht. Mit seinem wild wuchernden Bart könnte man ihn für einen entflohenen Sträfling halten. Der Exorzist wehrt sich nicht, als ihm Maturacas ein Amulett umhängt, und macht sich auf den Weg zur Kathedrale Nossa Senhora da Imaculada Conceição, deren Kuppeln in der Ferne sichtbar sind. Dort wird ihm Pater Jacomino raten können, denn er ist mit dem Übel ebenso vertraut wie mit der Finsternis der menschlichen Seele.
In der Altstadt, wo sich der brennend heiße Atem des Urwaldes mit dem Dunst, der vom Rio Negro aufsteigt, vermengt, ist die Luft so feucht, dass Carzos Sandalen Abdrücke auf dem Asphalt hinterlassen. Seine Kutte ist von Schweiß getränkt, und vor seinen Augen tanzen Lichtpünktchen. Je näher er der Kathedrale kommt, desto mehr verstärkt sich sein Eindruck, dass sich das Licht ändert. Am milchigen Himmel scheint die Sonne allen Glanz verloren zu haben. Man könnte sagen, eine kalte Sonne.
Er beschleunigt den Schritt. Die Fassade der Kathedrale rückt näher. Mit einem Mal fällt ihm die Stille in der Stadt auf. Unterbrochen wird sie lediglich durch Hundegebell und das Geräusch, mit dem Fensterläden geschlossen werden. Es ist, als habe ihr Herz aufgehört zu schlagen.
Dann merkt er, dass die breiten Straßen, durch die er geht
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