Das Evangelium nach Satan
Heiligen oder der ferne Duft von Lilien, der zur Heiligen Jungfrau gehört. Jetzt begreift er, dass Gott mitsamt seinem himmlischen Gefolge die Kathedrale verlassen und die Jesuiten dem Untier ausgeliefert hat. Gerade, als er in Trauer versinken will, ertönt aus den Grundfesten der Kathedrale ein fernes Geheul. Er senkt den Blick und sieht, dass er auf einem schmiedeeisernen Lüftungsgitter steht, dessen Muster sich in die Sohlen seiner Sandalen drückt. Er beugt sich vor und nimmt den starken Geruch nach Weihrauch und Veilchen wahr, der aus den Eingeweiden der Kathedrale zu ihm emporsteigt. Ein erneutes Geheul, durch die Entfernung gedämpft, bricht sich durch das Gitter Bahn: Dort unten tobt der Kampf weiter.
6
Das Gebäude des FBI wirkt menschenleer. Maria tritt an die Panzerglasscheibe, hinter der die Pförtnerin sitzt. Sie weist sich aus und legt ihre Dienstwaffe in die Metallschublade, die sich vor ihr öffnet. Die Angestellte zieht die Schublade zu sich herüber und schließt die Pistole ein. Maria merkt, dass sie sich ohne ihre Glock, die sie in elf Jahren lediglich rund hundertmal benutzt hat, nackt fühlt. Die Frau schiebt ein Formular durch einen Schlitz unter der Scheibe, das Maria unterschreiben muss.
»Wo sind eigentlich all die Leute hier?«
»Im Augenblick halten nur vier Beamte die Stellung, die anderen untersuchen eine Serie von Friedhofsschändungen, die in letzter Zeit hier in der Gegend stattgefunden haben. Man könnte glauben, dass sich alle Teufelsanbeter von Colorado bis nach Wyoming verabredet hätten, Tote aus den Gräbern zu holen und Ziegenböcken die Kehle durchzuschneiden.«
»Leben denn hier besonders viele Satansjünger?«
»Im Boulder gibt es eine große Gemeinde. Junge Leute in schwarzen Umhängen, die fünfzackige Sterne auf die Mauern pinseln und Bier trinken, wobei sie rülpsen und lateinische Sprüche rückwärts aufsagen. Allerdings könnte ich mir denken, dass der Teufel, falls er existiert, mit dieser Art von Bewunderern nichts zu tun haben will. Und weshalb sind Sie hier?«
»Wegen eines Satansjüngers.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Aber meiner ist eher ein Serienmörder, und ich bin ganz sicher, dass der Teufel ihn ernst nimmt.«
»Sonderbares Wild, das Sie da jagen. Schlimmer als Kindermörder, was?«
»Ich brauche Zugang zu einem Rechner mit einem Breitbandanschluss.«
Ein wenig verärgert über Marias knappe Antwort nennt ihr die Frau den entsprechend ausgestatteten Raum am Ende des Korridors.
Maria hört das gedämpfte Geräusch ihrer Schuhe auf dem Teppichboden. In den Büros, an denen sie vorüberkommt, sieht sie eingeschaltete Computerbildschirme. Funksprechgeräte stehen auf ihren Ladestationen. Hier und da schrillen Telefone in der Leere.
Sie schließt die Tür zu Raum 1119 hinter sich und schaltet den Rechner ein, der zwischen einem Papierstapel und Pappbechern steht. An den Wänden hängen neben Fahndungsfotos der gefährlichsten Verbrecher in Colorado und Wyoming Plakate, mit denen nach seit Jahren verschwundenen Kindern gesucht wird. Unter dem Bild des Präsidenten hängt in der Mitte der Wand die amerikanische Verfassung in einem verstaubten Rahmen. Rechts davon ein Fahndungsplakat mit den zehn meistgesuchten Verbrechern auf der ganzen Welt. Die jeweils ausgesetzte Belohnung schwankt zwischen hunderttausend Dollar für einen gewissen Pablo Tomas de Limasol, der als Auftragsmörder für kriminelle Syndikate tätig ist, und einer Million für einen gewissen Robert S. Dennings, der mit Waffen handelt und atomare Einrichtungen verschiebt. Maria stößt einen leisen Pfiff aus. Hätte sie sich auf die Jagd von dieser Art Wild spezialisiert, könnte sie es sich jetzt leisten, in Las Vegas ins Spielkasino zu gehen. Leider aber ist sie umherziehenden Mördern auf der Spur, und für die setzt die amerikanische Regierung merkwürdigerweise keine Belohnungen aus.
Sie meldet sich bei der Datenbank an, die das FBI mit entsprechenden Einrichtungen in Mexiko und Europa vernetzt hat. In ihr werden Angaben über Gewaltverbrechen gesammelt, deren Lösung den Polizeikräften auf der Welt bisher nicht gelungen ist, Fälle von Serienmördern, bei denen man lediglich die Opfer zählen konnte, ohne etwas gegen die Täter in der Hand zu haben. Das gilt vor allem dann, wenn der betreffende Mörder in der Welt umherzieht, denn wer auch nur die geringste Aussicht haben will, einen solchen Gegner zu stellen, muss in das Labyrinth von dessen Geist eindringen und den Ausgang
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