Das fahle Pferd
Sehr traurige Sache! Ein polizeilicher Aufruf ersuchte alle, die diesen Pater Gorman an dem betreffenden Abend gesehen hatten, sich zu melden. Nun, ich hatte zufällig eine Weile vor meiner Tür gestanden und den Priester auf der anderen Straßenseite bemerkt. Gleich nach ihm kam ein anderer Mann, der so auffällig aussah, dass er meine Aufmerksamkeit erregte. Damals natürlich dachte ich nicht weiter darüber nach, aber ich bin ein Mann mit einer scharfen Beobachtungsgabe, Mr Easterbrook, und ich vergesse nicht so leicht ein Gesicht, das ich einmal gesehen habe. Nun, ich erzählte also meine Geschichte der Polizei – man dankte mir –, und das war alles.
Ein paar Tage nach diesem Vorfall besuchte ich ein Fest hier in Much Deeping und was soll ich Ihnen sagen: Der gleiche Mensch begegnet mir wieder! Zuerst hielt ich es für unmöglich, denn er saß in einem Rollstuhl. Ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr, dass er ein reicher Hausbesitzer aus dieser Gegend ist und Venables heißt. Nachdem ich mir die Sache zwei oder drei Tage überlegt hatte, schrieb ich dem Polizeibeamten, dem ich bereits meine erste Beobachtung erzählt hatte. Er kam persönlich zu mir nach Bournemouth – Inspektor Lejeune ist sein Name. Aber er erklärte, ich müsse mich zweifellos geirrt haben, denn Mr Venables sei seit Jahren invalide und könne sich ohne Rollstuhl nicht bewegen.«
Mr Osborne hielt abrupt inne. Ich rührte in meiner Tasse und nippte vorsichtig an der hellen Brühe, die sich Kaffee nannte. Mein Begleiter tat vorsichtig drei Stück Zucker in seinen Kaffee.
»Nun, damit scheint die Sache ja ihr Ende gefunden zu haben«, meinte ich bedächtig.
»J-a«, gab er zögernd zu. Dann lehnte er sich wieder vor und seine Augen glitzerten fanatisch hinter den Brillengläsern.
»Aber ich konnte mich nicht damit zufriedengeben, Mr Easterbrook. Ich bin ein eigensinniger Mensch und was ich gesehen habe, habe ich gesehen. Nach einigen Tagen des Nachdenkens kam ich zu der festen Überzeugung, dass ich dennoch Recht haben musste! Der Mann, den ich gesehen hatte, war Venables und kein anderer.« Er hob die Hand, wie um einen Einwand von mir abzuwehren.
»Oh, ich weiß, was Sie sagen wollen. Es war etwas neblig an jenem Abend und der Mann befand sich auf der anderen Straßenseite. Aber einen Punkt hat die Polizei nicht in Betracht gezogen – einen absolut ausschlaggebenden, nämlich den, dass ich ein wirkliches Studium daraus gemacht habe, jeden Menschen ganz genau zu betrachten – und wiederzuerkennen. Es handelt sich dabei nicht nur um das allgemeine Aussehen, um die große Hakennase und den auffallenden Adamsapfel. Nein, es war die ganze Haltung des Kopfes, das leichte Neigen des Nackens, die Form der Schultern. Ich wusste einfach, dass ich mich nicht geirrt haben konnte. Gut, die Polizei erklärte es als ausgeschlossen… doch war dem wirklich so? Das begann ich mich zu fragen.«
»Aber Mr Venables kann nicht einmal stehen, geschweige denn gehen«, wandte ich ein.
Er unterbrach mich, indem er seinen Zeigefinger eifrig schwenkte.
»Ja, ja, das weiß ich alles. Aber ich habe meine Erfahrungen mit Ärzten gemacht. Ich will nicht behaupten, sie seien alle Schwindler – einen Fall von Simulation würden sie bestimmt erkennen. Aber es gibt gewisse Dinge… Dinge, die ein Apotheker leichter zu durchschauen vermag als ein Arzt. Gewisse Drogen zum Beispiel, oder ganz harmlos scheinende Mittelchen. Damit kann Fieber herbeigeführt werden, Hautausschläge oder Juckreiz – eine trockene Kehle – erhöhte Absonderungen…«
»Aber sicherlich kein Muskelschwund«, gab ich zu bedenken.
»Richtig, richtig! Doch wer sagt uns denn, dass Mr Venables wirklich an Muskelschwund leidet?«
»Nun – sein Arzt doch, sollte ich meinen.«
»Auch wieder richtig. Aber ich habe über diesen Punkt einige Informationen eingeholt. Sein Arzt praktiziert in London, in der Harley Street. Bei dem hiesigen Arzt war er nur einmal, gleich nach seiner Ankunft. Dieser Arzt hat sich inzwischen zurückgezogen und lebt im Ausland. Der neue Arzt aber hat Mr Venables nie behandelt. Dieser sucht nur einmal im Monat den Spezialisten in der Harley Street auf.«
»Das scheint mir noch immer kein Grund…«
»Nur Geduld! Sie wissen ja nicht, was ich weiß. Ein einfaches Beispiel wird es Ihnen erklären. Mrs H. bezieht ein Jahr lang Krankengeld. Aber sie bezieht es in drei verschiedenen Ortschaften – nur nennt sie sich das eine Mal Mrs C. das andere Mal Mrs T. Die Damen C.
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