Das Falsche in mir
Gesicht, Marions Gesicht.
Damit verlassen sie ihr Gehege und begeben sich auf die freie Wildbahn. Ich habe sie nicht mehr unter Kontrolle. Ich versuche, mich abzulenken, mache stundenlange Gewaltmärschedurch den Wald, gehe ins Kino und in laute Studentenlokale, betrinke mich zum ersten Mal in meinem Leben.
Es nützt nichts.
Gegen Ende der Ferien bin ich beinahe bereit, Marion gehen zu lassen, um Schlimmes zu verhüten. Als ich sie aber wiedersehe, als sie mir weinend um den Hals fällt, ihren Körper an mich presst, sind meine Vorsätze sofort wieder vergessen.
Sie ist wunderschön. Ich möchte sie nicht mehr loslassen. Ich spüre ihre Geschmeidigkeit, ihre zarten Knochen, ihre weiche Haut. Ich küsse sie auf ihre sonnengebleichten Haare und bin dann fast erleichtert. Ihre Haut ist braun gebrannt und meine inneren Dämonen nähren sich von blasser Haut.
Wir haben etwas Zeit gewonnen, mindestens bis zu den ersten kalten Herbsttagen. Dann muss ich sie verlassen. Das verspreche ich mir.
16
Karen Beck ist seit zwei Tagen verschwunden, und sie wird nicht zurückkommen. Sina weiß, dass sie das den Eltern des jungen Mädchens nicht ins Gesicht sagen kann. Das muss sie auch nicht, sie sehen es ihr an. Die Mutter fängt an, ganz leise und trostlos zu weinen, ihr Mann legt den Arm um sie. Beide sehen blass und erschöpft aus.
Sina sagt nichts, weil ihr nichts einfällt. Hinter ihr steht Gronberg, dem auch nichts einfällt. Sie hört, wie er mit der Fußspitze den Linoleumboden bearbeitet, ein hastiges, gereiztes »Taptaptaptap«.
Sina ist erschöpft. Sie schläft schlecht, wegen Anne und Karen, aber auch, weil sie der Nachtmann nicht in Ruhe lässt. Manchmal denkt sie, er will ihr etwas sagen, aber sie kommt nicht darauf, was es sein könnte. Sie würde ihn fragen – sie hat schon lange keine Angst mehr vor ihm –, aber er ist vor zwanzig Jahren gestorben. Sie hat ihn nie angezeigt. Als sie es gekonnt hätte, weil sie groß genug war, um sich nicht mehr vor ihm zu fürchten, da wurde er sehr krank, und sie dachte, dass er genug gestraft sei.
Aber das war gelogen. Sie hat sich etwas vorgemacht, um nichts unternehmen zu müssen. In Wirklichkeit wollte sie nicht, dass jemand die Wahrheit erfährt. Wer steht schon gern als jemand da, der seinem Onkel einen blasen und noch viel schlimmere Sachen mit seinen Freunden tun musste? Keine junge Polizistin, die vorankommen und ein normales Leben führen will, und zwar ein normal gutes Leben, kein Opferleben.
Aber sie hat ihm immerhin gedroht. Sie saß an seinem Bett –da, wo es passiert war, Nacht für Nacht. Das Bett kam ihr viel kleiner vor als damals, nicht so bedrohlich.
Trotzdem war da wieder der Würgreiz von damals, als würde sich ihr Körper besser erinnern als sie selbst. Das Zimmer roch nach Krankheit, mentholhaltiger Medizin und muffiger Wäsche, und in der Küche nebenan räumte seine Pflegerin lärmend Geschirr in die Spülmaschine.
Wenn du das mit anderen Kindern machst, bist du tot , sagte sie zu ihm, mitten in sein faltiges, dünnes Gesicht. Ich warte nicht auf Beweise, Arschloch . Ein Gerücht reicht vollkommen aus.
Er hat sie angesehen, als hätte er sie gar nicht gehört oder als wäre es ihm egal. Es konnte ihm auch egal sein, er war ja schon so gut wie tot. Trotzdem hätte sie es am liebsten selbst getan: seinen dünnen Hals zugedrückt, sein erbärmliches Leben aus ihm rausgedrückt.
Wer waren die anderen?, fragte sie, beugte sich auf dem harten Stuhl vor, starrte ihm in die Augen. Er drehte sich weg, hin zur Wand, und raffte die Decke um die Schultern wie einen Schutzschild. Sie konnte die fleckige Kopfhaut unter seinen dünnen weißen Haaren sehen.
Hallo , rief sie. Rede mit mir. Wer waren die Maskenmänner?
In der Küche verstummte das Geklapper mit Tellern und Besteck, aber das war ihr egal. Sie schüttelte ihn an seiner mageren Altmännerschulter und schrie wie eine Irre auf ihn ein.
ICH WILL DIE NAMEN . SOFORT .
Er reagierte nicht.
SAG ’S MIR !
Sein Körper war ganz steif und knochig, die Augen waren fest geschlossen. Sie schaffte es nicht, ihn zu sich herumzudrehen. Die Pflegerin kam herein, mit einem Küchentuch in der Hand, und rief empört, was ihr denn einfalle, einen alten, kranken, hilflosen Mann zu quälen.
Sina hat damals kurz erwogen, es ihr zu erzählen. Aber siehätte gar nicht gewusst, wo anfangen. Also hat sie nichts gesagt, hat sich an ihr vorbeigedrängt und ist gegangen.
Eine Woche später ist er gestorben.
Was
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