Das Falsche in mir
tatsächlich sehnt sie sich nach jemandem, dem sie rückhaltlos vertrauen kann. Tut sie das, gibt es bei ihr kein Halten mehr. Im Lauf der Zeit gelingtes mir, sie davon zu überzeugen, dass mich nichts schockiert, dass ich hundertprozentig diskret bin und dass ich bereit bin, ihren Beichtvater zu spielen. Das ist wie ein Safe-Code zu ihrem komplizierten Innenleben: Sie sprudelt über vor Geständnissen.
Ich höre aufmerksam zu, versuche, mich vollkommen auf sie einzustellen, versuche, sie zu sein , aber Marion umzingelt Themen, statt sich ihnen direkt zu nähern, bleibt oft im Vagen und Ungefähren, wird erst ganz allmählich konkreter, und so dauert es lange, und viele vorsichtige Erkundigungen sind nötig, um nicht nur den Weg in ihren Kopf zu finden, sondern mich dort so gut auszukennen wie in meinem eigenen.
Eines Tages erzählt sie mir, dass sie ihre Mutter hasst.
»Warum?«, frage ich wie schon so oft und rechne halb damit, dass ich wieder keine klare Auskunft bekommen werde. An diesem Nachmittag gehen wir spazieren, ich lotse sie auf meinen Lieblingsweg durch den Wald. Es ist ein trockener, windiger Tag, helle Wolkenfetzen ziehen über uns hinweg, oft bricht die Sonne durch. Der Wald duftet nach Harz, der weiche, feste Boden scheint unter uns nachzuschwingen, macht unsere Schritte federleicht.
»Ich weiß auch nicht«, sagt sie mit einem leicht nöligen Unterton, der mir bei anderen Mädchen auf die Nerven gehen würde, aber Marion kann in meinen Augen nichts falsch machen. Sie geht neben mir, halb hüpfend, halb schlendernd, auf unwiderstehliche Weise ungelenk. Ihr Kopf ist gesenkt wie so oft, ihre Haare verdecken halb ihr Gesicht, lassen nur die vollendet schöne, wie mit einem Lineal gezogene Kinnlinie frei.
»Natürlich weißt du das«, sage ich kühn und sehe sie dabei nicht an, weil sie sich schnell bedrängt fühlt und dann ganz zumacht.
Aber sie scheint es wirklich nicht zu wissen oder zumindest nicht ausdrücken zu können, was sie meint, denn statt einer Erklärung folgen wiederum mehrere Anekdoten, die mir verdeutlichensollen, wie schrecklich ihre Mutter sei. Mir erscheinen die geschilderten Vorfälle eher belanglos; viele Wortgirlanden verstecken den Kern ihres wahren Unbehagens, aber da ihr das wahrscheinlich nur halb bewusst ist, lasse ich sie mit weitergehenden Fragen in Ruhe und beschränke mich auf zustimmende Laute, weil es wohl das ist, was sie im Moment hören will.
Schließlich fragt sie mich nach meinem Verhältnis zu meinen Eltern. Ich erzähle von meiner tablettensüchtigen Mutter und der Gleichgültigkeit meines Vaters, und wir sind uns einig, dass Erwachsenen grundsätzlich nicht zu trauen ist und man sich in gar keiner Hinsicht auf sie verlassen kann, obwohl sie immer so tun, als ob sie ein Fels in der Brandung wären und mehr wüssten als wir.
An diesem Nachmittag küsse ich sie zum ersten Mal. Der Kuss dauert minutenlang, wir können uns kaum voneinander lösen. Ab diesem Zeitpunkt geht es rasant bergab. Nur merken wir es viel zu spät, denn niemand kann uns warnen.
14
Es beginnt bereits zu dämmern. Vassilis sieht mich an, schon die ganze Zeit, aber seine Augen sind trübe und sein Kopf hängt immer noch schief. Ich weiß nicht, ob er wirklich alles mitbekommen hat. Sicher ist nur, dass er Schmerzen hat und sich schlecht fühlt, denn er ist sehr blass.
»Vassilis«, sage ich.
Er sieht mich weiter an und antwortet nicht. Ich flöße ihm ein Glas Wasser ein. Anfangs wehrt er sich, aber dann trinkt er gierig. Ich hole ein weiteres Glas Wasser und mische zwei Aspirin hinein, die ich im Bad finde. Nach etwa zwanzig Minuten scheint es ihm besser zu gehen. Sein Blick wird klarer, und er sitzt so aufrecht, wie es mit den Fesseln möglich ist.
»Hast du alles verstanden?«, frage ich.
Er nickt. Sein Ausdruck ist weniger hasserfüllt als vorhin, aber immer noch verächtlich. Schließlich sagt er: »Du hast dich in ein Mädchen verknallt. Na und?«
Ich sage leise: »Sie ist tot.«
»Was?«
»Ich habe sie getötet.«
Vassilis sieht mich ungläubig an, obwohl er das schon aus der Zeitung wissen müsste, wo meine kriminelle Vergangenheit in jedem Artikel eine Hauptrolle spielt.
Schließlich verlangt er noch ein Glas Wasser. Ich hole es ihm und halte es an seine Lippen. Wasser läuft ihm über das Kinn und in den Hemdkragen. Er wirft entnervt den Kopf zurück.
»Mach mich los, du Idiot!«
Ich schüttle den Kopf, trotzdem bin ich froh, dass seine Lebensgeister wieder erwacht
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