Das Falsche in mir
hätte sie getan, wenn sie die Namen gewusst hätte?
Ja.
Das ist die Frage.
Karen Beck wurde zuletzt bei einer Freundin gesehen, mit der sie eigentlich in einen Club gehen wollte. Dann fühlte sich die Freundin aber nicht wohl, und Karen ging allein hin, obwohl das ihre Eltern ausdrücklich verboten hatten. Sie haben mit dem Clubbesitzer gesprochen, einem hippen Typ mit rasierter Glatze und Ohrring, er konnte ihnen nicht weiterhelfen.
Es haben sich mehrere Zeugen gemeldet, die Karen gesehen haben wollen: vor dem Club, im Club, auf dem Weg dahin, in einem ganz anderen Lokal, am Hauptbahnhof, in einer Stripteasebar. Keine dieser Aussagen hat die Ermittlung weitergebracht.
Karens Mutter heißt Sanne Beck. Sie weint, seitdem sie vor Sina und Gronberg sitzt, als würde sie nie etwas anderes tun, als wäre das ihr natürlicher Zustand. Man kann sehen, dass sie abgesehen von den roten Augen und der nassen, fleckigen Haut eine hübsche Frau ist. Sie hat dieselbe Frisur wie ihre Tochter und wie Anne: einen perfekt geschnittenen Pagenkopf, der genau an der Kinnlinie abschließt, nur sind ihre Haare dunkler und von ein paar graue Strähnen durchzogen. Ihre Gesichtszüge – der kleine Mund, die tief liegenden Augen, die schmalen Brauen – sind fein und zart.
Eine Frau, die man beschützen will. Sina wäre normalerweise ein bisschen neidisch auf sie. Es muss schön sein, beschützt zu werden.
Wenigstens manchmal. Dann, wenn man es braucht.
»Karens Foto ist in allen landesweiten Medien«, sagt Sinaund verscheucht den idiotischen Neidgedanken. Sie vergisst fast, dass Gronberg hinter ihr steht, aber in solchen Situationen ist er sowieso keine Hilfe. »Wir haben eine Sonderkommission eingerichtet. Wir tun wirklich alles.«
Die Worte haben in etwa den Effekt wie Baldrian auf einen tollwütigen Hund. Ihr Mann sieht sie zornig an, als hätte sie etwas Taktloses gesagt, und er hat ja auch recht, es ist taktlos, seiner Frau Hoffnungen zu machen, wo keine mehr sind.
Sie macht trotzdem weiter, denn nichts zu sagen ist noch schlimmer, als das Falsche zu sagen. »Im Moment wissen wir gar nichts. Es gibt ganz viele Möglichkeiten. Wir müssen einfach weiterermitteln.«
»Seien Sie doch ruhig«, sagt Karens Vater. Er heißt Hans Beck und ist Steuerberater. Er ist fünfundvierzig, fünf Jahre älter als seine Frau. Mehr weiß Sina nicht über ihn. Er selbst weint nicht, aber man sieht ihm an, dass er zu wenig Schlaf bekommt.
»Wir fangen gerade erst an«, sagt Sina.
Vor ihr liegt eine Liste mit allen Freunden und Bekannten Karens, die sie und ihre Kollegen in den nächsten Stunden befragen werden.
Sie werden ihre Alibis checken, ihre Beziehungen zu Karen untersuchen und dann die Aussagen miteinander vergleichen, um sämtliche Widersprüche aufzudecken. Dann werden sie erneut Vernehmungen durchführen, aber diesmal auf dem Revier. Und wenn das nichts bringt, werden sie sich Sanne und Hans Beck vornehmen. Nicht weil sie wirklich glauben, dass die Eltern schuldig sind. Nur damit sie sich nicht vorwerfen lassen müssen, nicht in alle Richtungen ermittelt zu haben.
Sanne Beck schüttelt die Hand ihres Mannes ab und steht auf. Sie hat aufgehört zu weinen. Ihr dunkler Mantel sieht aus, als wäre er ihr zu groß geworden.
»Bitte«, sagt sie und sieht Sina mit einem Blick an, der sooffen und verletzlich ist, dass jetzt Sina fast die Tränen kommen.
»Wir tun alles, was wir können«, sagt Sina, »das verspreche ich Ihnen.«
»Ich weiß. Ja«, sagt Sanne Beck.
Abends holt sie mit Meret Giordano das Treffen von vor vier Tagen nach, das sie verschieben mussten, weil Meret einen kurzfristig angesetzten Abendtermin hatte. Sie sind im »Amuse Bouche« verabredet, einem Feinschmeckerrestaurant am Kaiserdamm.
Meret lädt ein. Also will sie etwas von Sina. Aber das war ja sowieso klar.
Sina ist überrascht, als sie sie sieht, fast ein bisschen erschrocken. Normalerweise ist Meret gepflegt, die Haare sind frisch geföhnt. Heute nicht.
Sie hat die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt und hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt Jeans, Turnschuhe und ein Kapuzenshirt. Nicht ganz die richtige Bekleidung für das »Amuse Bouche«, aber eine Prominente wie sie kann sich das erlauben.
Erst als Sina ihr gegenübersitzt sieht sie, dass Meret im Gegensatz zu sonst völlig ungeschminkt ist. Sie trägt nicht einmal Mascara. Ihre Augen wirken dadurch schutzloser als sonst, müder und älter. Aber vielleicht liegt es gar nicht
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