Das Falsche in mir
erstaunt, dass mich sein Schicksal überhaupt beschäftigt. »Du räumst nicht auf, weil du aufgegeben hast. Du lebst nur noch in der Vergangenheit. Da.« Ich deute auf den Schrein mit dem Foto seiner Schwester und den anderen staubigen Devotionalien seiner Trauer. »Das ist lächerlich. Wie lang liegt das zurück? Zehn Jahre? Zwanzig? Kein Wunder, dass dich deine Frau verlassen hat.«
»Lenk nicht ab.«
»Ich lenke nicht ab.«
Aber natürlich tue ich genau das. Was interessiert mich Vassilis’ Leben?
»Ich habe Anne jedenfalls nicht umgebracht, so wie du deinen Cousin.«
Vassilis schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken, als sei ihm diese Diskussion zu ermüdend. Aber ich lasseihn nicht davonkommen. »Du hast ihn doch umgebracht, oder? Du und deine Brüder oder du und dein Vater oder du und wer auch immer.«
Vassilis lässt den Kopf noch weiter zurücksinken, wenn das überhaupt noch möglich ist. »Hat dein Cousin das mit deiner Schwester eigentlich jemals zugegeben? Bist du wirklich sicher, dass er derjenige war?«
Ich höre meine eigene laute, aufgeregte Stimme und breche ab.
Das Schweigen fühlt sich an wie ein Vakuum, das uns beide verschluckt. Ich bin fast erleichtert, dass ich husten muss.
Schließlich sagt Vassilis, immer noch mit geschlossenen Augen: »Es konnte niemand anders gewesen sein.«
»Und deswegen habt ihr ihn getötet? Weil es niemand anderes gewesen sein konnte? Es kann immer jemand anderes gewesen sein. Immer.«
»Das sagst du, weil du deine Schuld nicht wahrhaben willst. Lauf nur weiter davon, tu nur weiter so, als wärst du’s nicht gewesen.«
»Ich war es nicht. Ich war viel zu betrunken dafür. Es ist einfach nicht möglich.«
»Na und? Betrunkene können einiges leisten.«
Genau das mutmaßt die Polizei.
Vassilis hat recht: Alles, was mich entlasten könnte, wird zum neuen Indiz gegen mich. Und ich weiß ja, es ist möglich. Alles ist möglich. Ich weiß, dass der Alkohol nichts entschuldigt oder erklärt.
Ich verstumme. Auf einmal kommt mir alles so sinnlos vor. Um mich herum wird alles grau und leblos, und ich merke, wie erschöpft ich bin, wie groß die Versuchung ist aufzustehen, die Wohnung zu verlassen, die nächste Polizeidienststelle aufzusuchen, mich zu stellen, aufzugeben.
»Lukas«, sagt Vassilis. Seine Stimme klingt anders als vorhin, sanfter.
Ich hebe den Kopf, den ich, ohne es zu merken, in meine Hände gelegt habe, als wäre er mir zu schwer geworden. Vassilis’ Augen sind geöffnet, sie fixieren mich.
»Was war mit dir und Marion?«
Eine Pause entsteht, in der ich nach Worten suche, denn ich möchte darüber reden. Aber es geht nicht. Ich kann nicht weitererzählen von Marion und mir, nicht jetzt. Ich kann nicht in Worte fassen, wie es war, als der Herbst kam, Marions Haut wieder blass wurde und wir zum ersten Mal miteinander schliefen, die Dämonen sich zurückzogen und ich ein paar selige Wochen lang überzeugt davon war, dass die Liebe gesiegt hatte.
»Warum bist du so?«, fragt Vassilis in meine Gedanken hinein.
»Wie?«
Aber ich weiß, was er meint.
»So. Wie du … gesagt hast. Diese blöden Ideen in deinem Kopf. Woher kommen die?«
»Ich hab schon immer gern Tiere seziert. Käfer, Mäuse und Ratten.«
»Das machen sie alle, das habe ich gelesen.«
»Das war doch nur ein Witz. Du hast überhaupt keine Ahnung.«
»Dann erklär’s mir. Ich verstehe es nicht.«
Ich seufze.
Auf dem Kühlschrank steht eine geschlossene Flasche Rotwein, auf der sich eine millimeterdicke Staubschicht angesammelt hat. Ein teuer aussehender französischer Wein, vielleicht ein Geschenk, vielleicht ist Vassilis doch nicht so einsam, wie es den Anschein hat.
Ich entkorke die Flasche und schenke zwei Gläser ein.
»Ich verstehe es auch nicht«, sage ich. »Es ist ein Teil von mir und auch wieder nicht. Ich weiß nicht, woher es kommt. Es sind Wesen aus einer anderen Welt. Sie kommen aus einem anderen Ich, das neben meinem Ich existiert.«
Hallo, mein schwarzer Bruder, wieder zurück? Wozu wirst du mich diesmal zwingen wollen und werde ich dir noch einmal gehorchen?
»Erzähl mir, was passiert ist«, sagt Vassilis.
»Es ist so sinnlos.« Die Worte kommen aus meinem Mund, als bestünden sie aus Materie, ich sehe ihnen nach, sie lösen sich auf.
»Sag mir alles«, fordert Vassilis.
Das Gefühl der Unwirklichkeit ist wieder da. Es ist, als würde ich mir Vassilis’ und meine eigene Existenz nur einbilden, als gäbe es uns gar nicht, als wären wir
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