Das falsche Opfer
nicht mehr hier sein.«
»Gab es einen chinesischen
Offizier, der Gefangene verhörte, im Lager?« fragte ich beiläufig.
»Woher, zum Kuckuck, wissen Sie
denn das?« sagte MacGregor in liebenswürdig
überraschtem Ton. »Und ob da einer war — ein elender kleiner Bastard, der immer
zu behaupten pflegte, Sex aus Vergnügen sei nichts als ein weiteres Zeichen
amerikanischer Dekadenz. Ich erklärte ihm, er selber sei ein lebendes Zeichen
für die Dekadenz seiner Vorfahren und brachte für meine Bemühung die nächsten
sechs Stunden in der heißen Sonne angepflockt zu.«
»Nur fünfundsiebzig Stunden?«
bohrte ich. »Sind Sie sicher, daß es nicht eher sechs Monate waren?«
Er öffnete die Tür seines
Schreibtischs und nahm eine kleine bronzene Plakette heraus. »Wenn Sie mir
nicht glauben wollen, dann sehen Sie sich das mal an«, sagte er gut gelaunt und
legte sie auf den Tisch.
In die Plakette war eine
Inschrift eingraviert. Sie lautete:
Für
Captain Stuart MacGregor als Andenken an seine
einmalige Leistung, drei Tage Abwesenheit dazu zu benutzen, mit dem Feind zu
fraternisieren und dann heil zur heimatlichen Luftbasis zurückzukehren. — Von
seinen alten Kumpels Mitch Kramer, Red Hoffner und Sam Forde .
»Wenn Sie mir noch immer nicht
glauben wollen, Lieutenant«, sagte er grinsend, »dann können Sie sich bei Mitch
und Sam erkundigen.«
»Ich glaube Ihnen«, sagte ich
aufrichtig. »Vielen Dank, Mr. MacGregor , Sie sind mir
eine große Hilfe gewesen. Ich habe das Gefühl, daß Ihre gespaltene
Persönlichkeit eine sehr wichtige Ergänzung geliefert hat.«
»Bitte — gern geschehen«, sagte
er verblüfft.
»Bis später«, sagte ich und
strebte der Tür zu.
»He, Lieutenant!« rief er, »Sie
sind noch gar nicht dazu gekommen, mir Ihre seltene Geschichte zu erzählen!«
»Sie wissen gar nicht, wie nahe
ich daran war, sie zu erzählen«, gab ich zu. »Aber eigentlich war sie gar nicht
so merkwürdig — ich glaube nicht, daß Sie amüsiert gewesen wären, Mr. MacGregor . Es gibt gewisse Späße, die sehr geschmacklos
sind, aber irgendwie erkennt man das nicht.«
Zehntes Kapitel
A uf dem Weg zurück in die Stadt
hielt ich vor einem Drugstore, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Hinterher rief
ich in Irvings Büro an. Das Rufzeichen ertönte viermal, dann hob jemand den
Hörer ab.
»Hier Philipp Irvings Büro«,
sagte eine mißtrauische Stämme, die wie ein mit einer
Schrotladung beschossener Eisenzaun klang.
» Polnik «,
sagte ich widerwillig, »was, zum Teufel, haben Sie denn dort zu suchen?«
»Sie müssen falsch verbunden
sein«, gab er abwehrend. »Hier ist kein Sergeant Polnik ,
hier spricht Philipp...«
»Hier spricht Lieutenant
Wheeler, Sie transatlantisches Kabelrindvieh!« schrie ich ihn an. »Ich möchte
mit Miss Jones im Vorzimmer sprechen!«
»Oh, sind Sie’s, Lieutenant?«
Aus irgendeinem Grund war er glücklich — wer konnte schon wissen, was sich in
diesem zottigen Schädel zusammenbraute? »Hier ist kein Mädchen, Lieutenant -
sonst wäre ich mit der Vernehmung beschäftigt.«
Ich knallte den Hörer auf die
Gabel und war bereits fünf Kilometer vom Drugstore entfernt, als ich
Gewissensbisse bekam. Ich hätte mitfühlender sein sollen — Polnik hatte seinen ersten Witz ohne jede fremde Hilfe gemacht.
Ich hatte mit Sicherheit
angenommen, daß Johnny im Büro wäre, aber da sie nicht dort war, würde sie sich
wahrscheinlich in der Wohnung ihrer Tante aufhalten. Nachdem ich schon einmal
angefangen hatte, an Johnny Jones zu denken, war es nicht leicht, wieder davon
loszukommen. Meine Gedanken schweiften zurück zu dem Zeitpunkt, als ich sie das erstemal hinter ihrem Schreibtisch in Irvings Büro
hatte sitzen sehen, und bewegten sich dann mit liebevoller Aufmerksamkeit für
Details chronologisch durch unsere nachfolgenden Beziehungen. Es war
faszinierend, überlegte ich, so faszinierend, daß ich am besten auf meinem Weg
zur Stadt bei ihrer Wohnung haltmachte.
Auf einen Klingelknopf drücken
ist eine Technik, vor der ich Respekt habe. Ich benutzte diesmal die der
gebieterischen Annäherung — was ein langes, lautes, forderndes, schrilles
Geklingel mit sich brachte, dem ein zweites, gleichartiges folgte. So etwas
pflegt den jeweiligen Bewohner hübsch einzuschüchtern, und diese Art zu
klingeln ist dafür berechnet, ihm das Gefühl zu vermitteln, daß die Nemesis nun
doch endlich seine Hausnummer gefunden habe.
Etwa zehn Sekunden später rief
Johnny mit
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