Das falsche Urteil - Roman
Muffigkeit. An den Wänden Kalender und grelle Landschaften. Mit einem Handtuch
bedecktes Geschirr im Trockengestell. Fast leerer Kühlschrank. Kränkelnde Topfblume auf dem Tisch.
Dann noch das Badezimmer. Auch eine Alternative, die er für sich selber für möglich halten würde. Langsam im heißen Wasser zu verdämmern. Wie Seneca. Nicht wie Marat.
Er schaltete das Licht ein.
Er konnte fast das Lächeln des Mörders ahnen; wie ein ausdauerndes halbironisches Spiegelbild in den blanken dunkelblauen Wandfliesen. Als habe der andere gewusst, dass er diesen Raum bis zuletzt aufheben würde. Als habe er eine Zeit lang mit dem Gedanken gespielt, für diesen eifrigen Kriminalbullen eine Mitteilung zu schreiben und sie hier zu hinterlassen, als habe er davon jedoch abgesehen, weil ja doch schon ganz klar war, wer bei diesem sinnlosen Wettstreit den Kürzeren ziehen würde.
Van Veeteren seufzte und betrachtete einen Moment im Spiegel über dem Waschbecken sein Gesicht. Es war kein sonderlich aufmunternder Anblick – so eine Art Mittelding zwischen dem Glöckner von Notre Dame und einem traurigen Bluthund. Wie immer, mit anderen Worten, nur noch etwas schlimmer.
Er knipste das Licht aus und ging wieder in die Diele. Blieb für einen Moment stehen und stellte fest, dass der Postkorb auf der Innenseite der Tür leer war. Was doch bedeuten musste, dass der andere erst vor kurzer Zeit verschwunden war. Vermutlich hatte er diese öde und ordentliche Wohnung erst vor einigen Stunden verlassen.
Dass er nur kurz etwas erledigen wollte, war sicher ausgeschlossen. Alles in dieser Wohnung wies auf eine Reise hin. Die mindestens einige Tage dauern sollte.
Oder war er für immer verreist? Vielleicht war das sogar ein gutes Zeichen? Wieder leuchtete ein kleiner Hoffnungsfunken auf. Hatte denn überhaupt jemand behauptet, er müsse es in seiner eigenen Wohnung erledigen?
Niemand, soweit er das beurteilen konnte.
Er ging wieder ins Treppenhaus und schloss die Tür. Warum hatte er die offen gelassen?
Damit Van Veeteren seine Hausdurchsuchung vornehmen könnte? Und wozu hätte diese dann gut sein sollen?
Oder hatte er das Abschließen einfach vergessen?
»Herr Van Veeteren?«
Er zuckte zusammen. Hatte nicht gemerkt, dass die Tür zu einer der Nachbarwohnungen vorsichtig geöffnet wurde. Ein rotgelockter Frauenkopf schaute heraus.
»Sie sind doch Herr Van Veeteren, oder? Er hat gesagt, dass Sie um diese Zeit kommen wollten.«
Van Veeteren nickte.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass er Sie leider nicht treffen kann, er ist nämlich ans Meer gefahren.«
»Ans Meer?«
»Ja. Er hat eine Nachricht für Sie hinterlassen. Bitte sehr!«
Sie reichte ihm einen weißen Briefumschlag.
»Vielen Dank«, sagte Van Veeteren. »Hat er sonst noch etwas gesagt?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Nein, was hätte er denn sagen sollen? Entschuldigen Sie mich bitte, ich habe einen Kuchen im Ofen.«
Sie schloss die Tür.
So, dachte Van Veeteren und starrte den Briefumschlag an.
Er öffnete ihn erst in einem Straßencafé, das in derselben Straße lag. Während er ihn noch in der Hand hielt und auf die Kellnerin wartete, dachte er daran, was Mahler am vergangenen Abend gesagt hatte.
Wenn man etwas unternimmt, so muss das im richtigen Moment geschehen. Was dass dann ist, ist nicht so wichtig. Ein wenig überspitzt, natürlich, aber vielleicht stimmte es wirklich, dass der Zeitaspekt bei allen Handlungen das ausschlaggebende Element war? Man konnte auf jeden Fall nicht davon absehen, das stand fest.
Sein Bier wurde gebracht. Er trank einen Schluck und öffnete den Umschlag. Zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und las:
Pension Florian
Behrensee
Er trank noch einen Schluck.
Das Meer, dachte er. Ja, das wäre natürlich eine Möglichkeit.
XI
25. November 1981
41
Wieder Nacht.
Wieder wach. Am Vortag war das Urteil gefallen, und ihre letzte Hoffnung war erloschen, wie eine Kerze im Sturm.
Schuldig.
Verhaven wieder schuldig gesprochen worden. Sie macht sich am Glas zu schaffen. Trinkt einen Schluck schales Mineralwasser und schließt die Augen. Kehrt ihre Gedanken immer wieder um. Was leitet dieses unbegreifliche Schicksal? Was bringt sie dazu, Stand zu halten? Statt einfach loszulassen und sich widerstandslos fallen zu lassen?
Dieses wahnwitzige Schweigen zu brechen und in der Finsternis zu versinken? Was?
Andrea, natürlich.
Andrea. Beim vorigen Mal war sie zwei Jahre alt, jetzt ist sie heiratsfähig. Eine reife
Weitere Kostenlose Bücher