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Das fehlende Glied in der Kette

Das fehlende Glied in der Kette

Titel: Das fehlende Glied in der Kette Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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berichtet. Über die Reihenfolge, in der Sie sie erzählten, schweige ich – die war wirklich mangelhaft. Aber ich will Ihnen zugute halten, dass Sie erschüttert sind. Diesem Umstand schreibe ich auch die Tatsache zu, dass Sie eine Sache von enormer Bedeutung ausgelassen haben.»
    «Was wäre das?», fragte ich.
    «Sie haben mir nicht gesagt, ob Mrs. Inglethorp gestern gut zu Abend gegessen hat.»
    Ich starrte ihn an. Bestimmt hatte der Verstand des kleinen Mannes durch den Krieg gelitten. Er war gerade mit dem Abbürsten seines Jacketts beschäftigt und schien völlig in diese Tätigkeit versunken.
    «Ich kann mich nicht mehr erinnern», sagte ich. «Außerdem sehe ich nicht, was…»
    «Das sehen Sie nicht? Aber das ist außerordentlich wichtig.»
    «Ich wüsste nicht, warum», sagte ich ziemlich pikiert. «Soweit ich mich erinnere, aß sie nicht viel. Sie war ganz offensichtlich aufgebracht und hatte deshalb keinen Appetit. Das war doch nur natürlich.»
    «Ja», sagte Poirot nachdenklich, «das war nur natürlich.»
    Er öffnete eine Schublade, nahm eine kleine Aktentasche heraus und drehte sich wieder zu mir um.
    «Jetzt bin ich fertig. Wir werden zum château gehen und uns alles an Ort und Stelle ansehen. Entschuldigen Sie, mon ami, Sie haben sich in Eile angekleidet und Ihre Krawatte sitzt schief. Gestatten Sie.» Mit einer geschickten Bewegung rückte er sie gerade.
    «Pa y est! So, können wir?»
    Wir eilten durch das Dorf und bogen beim Parktor ab. Poirot blieb einen Augenblick lang stehen und ließ seinen Blick traurig über den schönen Park schweifen, in dem noch der Morgentau funkelte.
    «So herrlich, so schön, aber da gibt es die bedauernswerte Familie, in tiefe Trauer gestürzt, vom Kummer gebeugt.»
    Er betrachtete mich während dieser Worte aufmerksam und ich merkte, wie ich unter diesem anhaltenden Blick rot wurde.
    War die Familie vom Kummer gebeugt? War ihre Trauer über Mrs. Inglethorps Tod so tief? Da erst wurde mir bewusst, dass im Haus keine Trauer geherrscht hatte. Die Tote hatte nicht die Gabe besessen, bei anderen Liebe zu erwecken. Ihr Tod war ein Schock und ein Unglück, aber sie würde nicht leidenschaftlich betrauert werden.
    Poirot schien meinen Gedanken gefolgt zu sein. Er nickte ernst.
    «Nein, Sie haben Recht, es ist nicht so, als gäbe es da Blutsbande. Sie war freundlich und großzügig zu diesen Cavendishes, aber sie war nicht ihre richtige Mutter. Blutsbande sind verräterisch – denken Sie immer daran – Blutsbande sind verräterisch.»
    «Poirot, ich wünschte, Sie würden mir sagen, warum Sie wissen wollten, ob Mrs. Inglethorp gestern Abend viel gegessen hat. Ich grübele und grübele, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit dem, was passiert ist.»
    Er schwieg, während wir weitergingen, und sagte schließlich: «Ich werde es Ihnen sagen, obwohl Sie ja wissen, dass es meine Gewohnheit ist, Erklärungen erst am Ende eines Falles abzugeben. Die momentane Streitfrage ist doch, ob Mrs. Inglethorp an einer Strychninvergiftung gestorben ist und dass ihr das Gift wahrscheinlich im Kaffee verabreicht wurde.»
    «Ja?»
    «Um wie viel Uhr wurde denn der Kaffee serviert?»
    «So gegen acht.»
    «Dann hat sie ihn also zwischen acht und halb neun getrunken – bestimmt nicht später. Aber Strychnin ist ein ziemlich schnell wirkendes Gift. Die Wirkung wäre rasch eingetreten, wahrscheinlich eine Stunde später. Doch bei Mrs. Inglethorp zeigten sich die Symptome erst um fünf Uhr am nächsten Morgen: neun Stunden später! Wenn sie nun zur selben Zeit mit dem Gift eine schwere Mahlzeit eingenommen hätte, wäre die Wirkung zwar verzögert worden, aber wohl kaum in diesem Ausmaß. Doch die Möglichkeit muss immerhin in Betracht gezogen werden. Nach Ihrer Beobachtung aß sie am Abend aber nur sehr wenig – und trotzdem zeigten sich die Symptome erst am nächsten Morgen! Das ist doch wirklich höchst sonderbar, mein Freund. Vielleicht kann die Autopsie ja eine Erklärung dafür liefern. In der Zwischenzeit werden wir es im Gedächtnis behalten.»
    Als wir uns dem Haus näherten, kam John uns entgegen. Er sah müde und verhärmt aus.
    «Das ist eine ganz schreckliche Angelegenheit, Monsieur Poirot. Hastings hat Ihnen bereits deutlich gemacht, dass wir in der Angelegenheit möglichst kein Aufsehen wollen?»
    «Das verstehe ich völlig.»
    «Sie sehen ja, bisher ist es nur ein Verdacht. Wir haben keinerlei Beweise.»
    «Ich verstehe. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.»
    John wandte sich mir zu,

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