Das Fenster zum Hof

ganz zufällig natürlich, zu einer merkwürdigen, winzigen Parallelität der
Vorgänge in den beiden Wohnungen. Der Makler und der potentielle Mieter
befanden sich im fünften Stock zufällig im gleichen Moment in der Nähe der
Wohnzimmerfenster wie Thorwald im dritten. Dann bewegten sie sich simultan
weiter zur Küche, verschwanden kurz — an dem blinden Fleck, der Wand zwischen
den beiden Räumen — und tauchten an den Küchenfenstern wieder auf. Es war
unheimlich, sie bewegten sich wie eine Tanztruppe oder wie Marionetten, die an
denselben Fäden hingen. Das würde wahrscheinlich in den nächsten fünfzig Jahren
nicht noch einmal passieren. Unmittelbar darauf verlief sich das Ganze, um sich
nie wieder so zu wiederholen.
    Irgend etwas daran hatte mich gestört.
Die Flüssigkeit des Bewegungsablaufs war durch irgendeinen winzigen Fehler,
eine kleine Unstimmigkeit beeinträchtigt worden. Ich bemühte mich einen
Augenblick, darauf zu kommen, was es war, doch es gelang mir nicht. Der
Wohnungsmakler und der Mieter waren inzwischen weg, nur Thorwald war noch zu
sehen. Ohne visuelle Unterstützung gelang es meinem Gedächtnis nicht, das Ganze
noch einmal zurückzuholen.
    Es sank in mein Unterbewußtsein und
löste dort, wie ein Stück Hefe, einen Gärungsprozeß aus, während ich zu dem
Hauptproblem zurückkehrte, vor dem ich stand.
    Schließlich fiel mir etwas ein. Es war
schon eine ganze Weile dunkel, aber endlich hatte ich eine Lösungsmöglichkeit.
Ich war nicht sicher, ob es funktionieren würde, auf jeden Fall war es nicht
einfach, ich konnte nicht direkt draufzusteuern, aber es war die einzige Möglichkeit,
auf die ich kam. Eine erschreckte Drehung des Kopfes, ein rascher,
unwillkürlicher Schritt in eine bestimmte Richtung war alles, was ich brauchte.
Und zu dieser kurzen, verräterischen Bewegung hoffte ich mit Hilfe von zwei
Anrufen und einer halbstündigen Pause dazwischen, in der er nicht in der
Wohnung war, zu kommen.
    Ich blätterte im Licht eines
Streichholzes das Telefonbuch durch, bis ich gefunden hatte, was ich suchte: Thorwald,
Lars, 424 Bndct.... Swansea 5-2114.
    Ich blies das Streichholz aus, hob im
Dunkeln den Hörer ab. Es war wie fernsehen. Ich sah meinen Gesprächspartner am
anderen Ende der Leitung, nur nicht über die Leitung, sondern über eine direkte
Sichtverbindung von Fenster zu Fenster.
    Er meldete sich mit einem schroffen:
»Hallo ?«
    Ich dachte mir: Wie merkwürdig, schon
drei Tage hintereinander bezichtige ich ihn des Mordes und erst jetzt höre ich
zum ersten Mal seine Stimme.
    Ich versuchte nicht, meine eigene
Stimme zu verstellen. Schließlich würden wir uns nie begegnen. Ich fragte:
»Hast du meine Mitteilung bekommen ?«
    Er fragte vorsichtig zurück: »Wer sind
Sie ?«
    »Nur einer, der zufällig was weiß.«
    Clever hakte er nach: »Der was weiß ?«
    »Einer, der weiß, was du auch weißt. Du
und ich, wir sind die einzigen .«
    Er beherrschte sich ausgezeichnet, gab
keinen Ton von sich. Aber er wußte nicht, daß er noch auf eine andere Weise
ungedeckt war. Ich hatte zwei dicke Bücher aufs Fensterbrett gelegt und das
Fernglas obendrauf, genau in der richtigen Höhe. Durchs Fenster sah ich, wie er
sein Hemd weiter öffnete, als wäre der Kragen unerträglich eng. Dann schirmte
er mit dem Handrücken die Augen ab, wie man es tut, wenn man von grellem Licht
geblendet wird.
    Seine Erwiderung kam mit fester Stimme:
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden .«
    »Von einem Geschäft rede ich. Da sollte
doch was für mich drin sein, oder? Damit es unter uns bleibt .« Ich wollte verhindern, daß er die Gefahr bei den Fenstern vermutete. Die
brauchte ich noch, jetzt dringender als zuvor. »Du hättest die Tür sorgfältiger
schließen sollen letzte Nacht. Oder vielleicht hat sie ein Luftzug aufgedrückt .«
    Das war ein Volltreffer. Ich hörte
sogar, wie sich ihm der Magen hob. »Sie haben gar nichts gesehen. Es gab nichts
zu sehen .«
    »Wenn du meinst. Warum sollte ich zur
Polizei gehen ?« fuhr ich mit einem Hüsteln fort. »Wenn
sich’s lohnen würde, nicht hinzugehen ?«
    »Oh«, sagte er. Und da klang
Erleichterung durch. »Wollen Sie sich mit mir treffen? Ja?«
    »Das wäre wohl das Sinnvollste. Wieviel
könntest du gleich mitbringen ?«
    »Ich hab bloß so um die siebzig Dollar
hier .«
    »Gut, den Rest heben wir uns für später
auf. Kennst du den Lakeside Park? Ich bin dort ganz in der Nähe. Treffen wir
uns am besten da .« Das war eine halbe Stunde Weg für
ihn, fünfzehn