Das Fenster zum Hof
Und doch, das kam nicht
hin. Das paßte hier nicht. Die Fenster waren offen gewesen, keine Glasscheibe
zwischen mir und ihnen. Und das Fernglas hatte ich da auch nicht benutzt.
Das Telefon klingelte. Boyne, nahm ich
an. Es konnte niemand anderes sein um diese Zeit. Vielleicht tat es ihm
inzwischen leid, daß er mich so zur Schnecke gemacht hatte — ich meldete mich
mit einem sorglosen »Hallo«, mit meiner ganz normalen Stimme.
Keine Antwort.
Ich wiederholte: »Hallo! Hallo? Hallo?«
Lieferte eine Stimmprobe nach der anderen ab.
Vom anderen Ende der Leitung kam kein
Ton.
Schließlich legte ich auf. Drüben war
es noch immer dunkel, stellte ich fest.
Sam steckte den Kopf herein, um sich
abzumelden. Seine Zunge war von dem Stärkungstrunk noch etwas schwer. Er sagte
irgend etwas wie: »Kann ‘ch ‘etzt gehn ?« Ich nahm es
kaum wahr. Ich versuchte, auf eine bessere Methode zu kommen, um ihn dort drüben auszutricksen, ihm den richtigen Ort zu entlocken. Abwesend winkte
ich Sam zu, er könne gehen.
Er war etwas unsicher auf den Beinen,
als er die Treppe hinunterstieg, hielt drunten, am Ausgang, kurz inne; es
dauerte einen Augenblick, bis die Haustür hinter ihm ins Schloß fiel. Der arme
Sam, er war keinen Alkohol gewöhnt.
Jetzt war ich allein in der Wohnung,
ich, mit meiner auf einen Rollstuhl beschränkten Bewegungsfreiheit.
Plötzlich ging drüben wieder Licht an.
Nur ganz kurz, es wurde sofort wieder dunkel. Er mußte es zu irgendeinem Zweck
gebraucht haben, um etwas zu finden, das er bereits gesucht hatte, wo ihm aber
klargeworden war, daß er es ohne Licht nie finden würde. Was immer es war, er
fand es fast augenblicklich und ging sofort zurück, um das Licht wieder
auszuknipsen. Dabei sah ich, wie er einen Blick aus dem Fenster warf. Er trat
dazu nicht dicht an die Scheibe, sondern blickte nur im Vorbeigehen kurz
hinaus.
Etwas daran fiel mir auf. Unterschied
diesen Blick von all den anderen, die ich bisher bei ihm beobachtet hatte. Wenn
man etwas so schwer Faßbares wie einen Blick überhaupt einordnen kann, dann
würde ich diesen als zielgerichtet bezeichnen. Es war auf keinen Fall ein
leerer oder ziellos umherschweifender Blick, er funkelte deutlich herüber,
hatte eine klare Richtung. Es war auch keiner seiner besorgten Rundblicke. Er
hatte nicht gegenüber, auf der linken Seite, begonnen und sich um den Elof
herum bis zu mir vorgearbeitet. Er hatte voll mein Erkerfenster getroffen,
nicht länger als den Bruchteil einer Sekunde. Und dann: kein Blick mehr, kein
Licht mehr dort drüben, kein Thorwald mehr in der Wohnung.
Manchmal nimmt man Sachen wahr, ohne sofort
eine Übersetzung in ihre eigentliche Bedeutung vorzunehmen. Meine Augen hatten
diesen Blick gesehen. Mein Gehirn weigerte sich, daraus die entsprechenden
Schlüsse zu ziehen. »Das hat nichts zu bedeuten«, dachte ich mir. »Ein
unbeabsichtigter Volltreffer, er hat zufällig genau hier rüber geguckt, als er
zum Lichtschalter ging .«
Spätzündung. Ein stummer Anruf. Um den
Klang meiner Stimme zu überprüfen? Gefolgt von atemloser Dunkelheit, in der
zwei das gleiche Spiel gespielt haben könnten — die Fenster des anderen
belauern, ohne selbst gesehen zu werden. Noch ein kurzes Aufflackern des
Lichts, strategisch ungeschickt, aber unvermeidlich. Ein letzter Blick, der
radioaktiv strahlte vor Bösartigkeit. All das drang in mich ein, ohne in meinem
Kopf einen Sinn zu ergeben. Meine Augen arbeiteten ausgezeichnet, nur mein
Gehirn wollte nicht recht — oder brauchte zumindest seine Zeit.
Die Sekunden verstrichen zu Minuten. In
dem vertrauten, von den Rückwänden der Häuser begrenzten Viereck herrschte
absolute Stille. Eine Art atemlose Stille. Die dann plötzlich von einem
Geräusch durchbrochen wurde, einem Geräusch, das sich aus dem Nirgendwo, aus
dem Nichts erhob. Das unverkennbare Zirpen einer Grille, in regelmäßigen
Abständen. Ich dachte an Sams Aberglauben, an seine Behauptung, das habe sich
noch jedesmal bewahrheitet. Wenn da was dran war, sah es schlecht aus für
irgend jemanden in einem der schlummernden Häuser ringsum...
Sam war erst seit etwa zehn Minuten
weg. Und jetzt kam er zurück, er mußte etwas vergessen haben. Der Alkohol war
schuld. Vielleicht seinen Hut, oder auch den Schlüssel für sein eigenes Zimmer.
Er wußte, daß ich nicht hinuntergehen und ihn hereinlassen konnte, und er
bemühte sich, keinen Lärm zu machen. Meinte wahrscheinlich, ich sei eingedöst.
Alles, was ich hörte, war ein schwaches
Weitere Kostenlose Bücher