Das Fest der Schlangen
doppelt Öl und doppelt Käse essen, ohne ein Gramm zuzunehmen. In der Hinsicht hat er Glück. Er wohnt im Haus seiner Eltern, das er geerbt hat. Sein Vater ist 2 000 gestorben, seine Mutter 2005 , und jetzt gehört es Larry. Allerdings musste er seinen älteren Bruder und seine Schwester auszahlen, die in Südkalifornien wohnen. Für die kam es nicht in Frage, in das »Höllenwetter« zurückzuziehen.
Während die Pizza aufgebacken wird – im Backofen, nicht in der Mikrowelle –, nimmt Larry drei Kekstöpfe aus Steingut von ihrem Bord herunter und stellt sie auf den Küchentisch. Dann wühlt er einen Ring aus der Tasche und hält ihn ins Licht: einen Damenring aus vierzehnkarätigem Gold. Das bedeutet, der mittlere Topf. Der linke ist für achtzehn Karat, der rechte für zwölf. Alles unter zwölf Karat ignoriert er. Bevor er die Töpfe wieder zurückstellt, schüttelt er sie kurz und freut sich an dem Gewicht. Ein vierter Topf für Verlobungsringe steht noch auf dem Bord. So einen gibt es heute Nacht nicht. Aber diese Töpfe und der Schmuck, den sie enthalten, sind einer der Vorzüge der Arbeit im Ofenpalast.
Was andere wach hält, ist das, was ein Freund immer »Schon-vier-Uhr-früh-o-mein-Gott« nannte. Da steht Vicki Lefebvre in einem weißen Kolonialhaus in der Market Street am Fenster und nagt an ihren Fingerknöcheln. Nina, ihre sechzehnjährige Tochter, ist seit zwei Nächten nicht nach Hause gekommen. Sie hat angerufen, um zu sagen, dass sie bei einer Schulfreundin übernachtet, doch dann hat die Schulfreundin selbst angerufen und wissen wollen, wo Nina ist. Also hat Nina gelogen. In letzter Zeit ist sie ein paarmal die ganze Nacht weg gewesen oder erst um drei oder vier Uhr morgens nach Hause gekommen. Aber es ist das erste Mal, dass sie zwei Nächte wegbleibt. Vickis Ex-Mann wohnt in Groton, und Vicki hat gute Lust, ihn anzurufen und aus dem Bett zu holen, damit er diese Qual mit ihr teilt, doch sie weiß, sie würde nur seine Mailbox erreichen, wie sie auch nur die Mailbox ihrer Tochter erreicht. Wo Nina in diesen Nächten hingeht, ist ein Geheimnis, aber wenn sie nach Hause kommt, hat sie Schlamm an den Schuhen, und einmal hingen Kletten am Ärmel ihrer Wolljacke. Wenn Vicki fragt, wo sie war, sagt Nina »Nirgendwo« oder »Bei einer Freundin« oder »Geht dich nichts an«. Und wenn Vicki sagt: »Alles, was du tust, geht mich etwas an«, antwortet Nina: »Von mir aus.« Das wäre an sich schon besorgniserregend, nur hat Vicki sie vor zwei Tagen mit drei anderen im Coffeeshop gesehen, im Brewster Brew, und die drei anderen, ein Mann und zwei Frauen, waren in den Zwanzigern und Dreißigern. Einer hatte ganz klar graue Haare. Sie lachten, als ob sie schon ein Leben lang miteinander bekannt wären, auch Nina. Lehrer waren es nicht; Vicki hat keine Ahnung, wer diese Leute waren. Auf ihre Nachfrage hat ihre Tochter zunächst abgestritten, dass sie da war, und dann hat sie gesagt: »Niemand, das war niemand.« Also steht Vicki jetzt am Fenster, nagt an ihren Fingerknöcheln und sieht zu, wie die Äste sich hin und her bewegen. Sie weiß, dass sie etwas unternehmen muss, aber wenn sie versucht, Nina unter Hausarrest zu stellen, wird die nur lachen. Und was soll Vicki dann tun?
Angst ist sicher das älteste Gefühl von allen. Nicht Liebe, nicht Stolz, nicht Habgier. Das Gefühl, das einen antreibt wegzurennen, ist älter als der Drang, jemanden zu umarmen. Nehmen wir zum Beispiel Schreie: Schreie der Aufregung, des Glücks, der sexuellen Erregung, des Erfolgs, des Schreckens. Als Schwester Spandex im Säuglingszimmer des Krankenhauses schrie, haben sich diejenigen, die davon aus dem Schlaf gerissen wurden, nicht gefragt: »Hm, was für ein Schrei war das?« Sie wussten es schon. Und ihre Körper reagierten schneller als ihr Verstand. Wir sagen, ihnen gefror das Blut in den Adern, aber Worte werden dem Schrecken nicht gerecht, der die Leute da aus dem Schlaf riss. Jamie Shepherd, der mit zwei gebrochenen Beinen im Bett lag, wollte aufspringen und losrennen. Mabel Flynn, siebenundneunzig Jahre alt und beinahe ohne Vitalfunktionen, verspürte einen Adrenalinstoß, der sie durch den Flur hätte kriechen lassen, wenn sie nicht mit einem Dutzend Apparate verkabelt gewesen wäre.
Wie bei einem Stein, den man ins Wasser wirft, verbreiteten sich die Wellen, die der Schrei hervorrief, nach außen. Es begann mit dem Schrecken derer, die in den Nachbarzimmern aus dem Schlaf gerissen wurden, ging weiter mit dem
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