Das Fest der Schlangen
ließen.
Hank Alvarez, der diensthabende Staatspolizist in Alton Barracks, war am Handy, und Fred Bonaldo, der kommissarische Polizeichef von Brewster, rief auf der Festnetzleitung an. Woody wusste, dass es ein Fehler war, sich ein Telefon an jedes Ohr zu drücken und beiden zuzuhören, einem atonalen Duett über Schlangen, verschwundene Babys, eskalierende Hysterie und eine kriminaltechnische Einheit, die unterwegs sei. Gern hätte er ihnen gesagt, er sei in einer toten Zone des Schlafentzugs unterwegs, in einem Nebel der Ahnungslosigkeit. Stattdessen sagte er nur, er werde unverzüglich zum Krankenhaus fahren, und eigentlich war das alles, was sie von ihm hören wollten.
Woody schwenkte die Füße auf den Boden, stützte die Ellenbogen auf die Knie und blieb sitzen, das Kinn in die Hände gelegt. Obwohl er schon vor elf ins Bett gegangen war, hatte er sich noch eine Stunde lang hin und her gewälzt. Ajax, sein Golden Retriever, kam im Dunkeln angetappt und leckte ihm die Zehen. Schlimmer als jede Horrorshow, die sich im Morgan Memorial abspielen konnte, war die Leere auf der anderen Hälfte des Queensize-Bettes, eine Leere, die mit der zunehmenden Leere in ihm selbst vergleichbar war. Das Loch war so groß, dass sein ganzes Leben hineinzukippen drohte, und am liebsten hätte er sich wieder hingelegt und den Kopf unter das Kissen geschoben. Er schüttelte sich, schnappte Jeans und Stiefel, und lief vier Minuten später durch die Hintertür hinaus zu seinem Toyota Tundra. Ajax und die Katze standen oben auf der Küchentreppe und starrten ihn an, als wollten sie fragen: »Wasnlos? Wasnlos?«
Woody Potter war einer von fünf Detectives der State Police für den Bereich Washington County, und über das, was ihn erwartete, wusste er nur, dass Fred Bonaldo glaubte, damit nicht allein fertigzuwerden. Brewster hatte dreißig Vollzeitpolizisten und fünfzehn Teilzeitcops, die nur vom 1 . Mai bis zum 1 . Oktober Dienst taten. Wenn Chief Bonaldo mehr Personal benötigte, rief er bei der State Police an. Angenommen, der Chief brauchte ein Spezialeinsatzkommando, würde er stattdessen vielleicht in Westerly oder South Kingstown anrufen, und Bonaldo würde wahrscheinlich nach einem Spezialeinsatzkommando schreien, wenn ein Vierjähriger auch nur einen Schneeball auf einen Streifenwagen warf. Bin ich da nicht unfair? , dachte Woody. Und war das nicht etwas, worüber Susie sich immer beklagt hatte? Seine negative Haltung? Während er auf der dunklen Straße in Richtung Brewster fuhr, sah er das Fragezeichen über sich schweben, wie ein Barsch einen Angelhaken beäugt. »Scheiß drauf!«, sagte Woody so laut, dass er einen Satz machte, als gehörte die Stimme jemandem, der auf dem schmalen Sitz hinter ihm hockte.
Er war neununddreißig und an der Schwelle zu seiner zweiten Ehe. Ein Jahr nach seinem Abschluss an der Tolman Highschool war er rechtzeitig zum ersten Irak-Krieg zur Army gegangen: sechs Monate lähmende Langeweile und ein paar Augenblicke des Grauens. Als Nächstes dann vier Jahre an der University of Rhode Island und ein Examen in Politikwissenschaft mit Kriminologie und Strafrecht als Nebenfächern, die Fortsetzung eines schweren Alkoholproblems und Cheryl, seine erste Frau. Ein Jahr später nahm er ein Jurastudium an der Roger Williams Lawrence School auf. Er hielt neun Monate durch und brachte seine Trinkerei unter Kontrolle, während seine Ehe aus der Kurve flog. Er hatte immer gedacht, das wäre Cheryls Problem gewesen. »Es macht keinen Spaß mehr mit dir«, hatte sie gesagt. Sie liebte Partys, und er hatte die Partys satt. Inzwischen dachte er, dass es wahrscheinlich sein Problem gewesen war. Er war ungeduldig und wortkarg, wenn ihn etwas störte. Jedenfalls hatten sie sich scheiden lassen. Cheryl war in Oregon, und wahrscheinlich würden sie einander nie wiedersehen.
Schon bevor die Scheidung rechtskräftig wurde, hatte Woody sich zu einem sechsundzwanzigwöchigen Ausbildungsprogramm an der Akademie der State Police in Foster eingeschrieben. In den ersten einundzwanzig Wochen hatte er an fünf Tagen der Woche in der Akademie wohnen müssen. Es war wie die militärische Grundausbildung – in mancher Hinsicht schlimmer, in anderer besser, weil er freitagabends nach Hause fahren konnte. Inzwischen war er seit elf Jahren Trooper: ein Polizist bei der State Police. Was zwischen der Abschlussprüfung an der Akademie und dem Punkt lag, an dem er sich heute Morgen befand, war einerseits die beruhigende Präzision
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