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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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lieben. Ich sage, sie fürchteten sich, zu sterben, weil sie das Leben liebten und weil sie Wunder gesehen hatten - nicht weil sie habgierige kleine Monster gewesen wären. Nein. Sie waren irregeleitet, weil niemand ihnen eine Herausforderung stellte; sie waren verwöhnt wie unartige Kinder; aber ihr Wagemut und ihre Tapferkeit waren unerhört. Würdest du dich aus Habgier in das Unbekannte vorwagen? Niemals. Habgier funktioniert nur in der Welt des Alltagslebens. In diese erschreckende Einsamkeit sich vorzuwagen, dazu braucht man etwas Größeres als Habgier. Liebe, ja, man braucht Liebe zum Leben, Liebe zur Entdeckung, zum Geheimnis. Man braucht unersättliche Neugier und jede Menge Mumm in den Knochen.
    Also, hör mir auf mit solchem Blödsinn, von wegen, du wärst angewidert. Es ist peinlich!«
    In seinen Augen funkelte ein unterdrücktes Lachen. Er wies mich zurecht, aber er konnte darüber lachen.
    Don Juan ließ mich etwa eine Stunde allein im Zimmer. Ich versuchte meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Es war mir unmöglich. Ich wußte ohne allen Zweifel, daß mein Montagepunkt sich in einer Position befand, wo die Logik nichts zählt, und dennoch plagten mich logische Überlegungen. Technisch betrachtet, sagte Don Juan, würden wir schlafen, sobald der Montagepunkt sich verschiebe. Also fragte ich mich jetzt zum Beispiel, ob ich vom Standpunkt eines unbeteiligten Betrachters gesehen schlief - ähnlich wie Genaro in meinen Augen geschlafen hatte.
    Als Don Juan zurückehrte, befragte ich ihn deswegen. »Natürlich schläfst du, auch wenn du dich nicht langzulegen brauchst«, antwortete er. »Auf Leute, die in ihrem normalen Bewußtseinszustand sind, würdest du wahrscheinlich betrunken wirken.«
    Im normalen Schlaf, so erklärte er, bewege sich der Montagepunkt an den Rändern des menschlichen Bandes entlang. Solche Verschiebungen seien immer mit dem Zustand des Schlafes verbunden. Durch Übung eingeleitete Verschiebungen hingegen bewegten sich über die Mitte des menschlichen Bandes und seien nicht mit Schlaf verbunden - und doch schlafe der Träumer. »Genau an diesem Punkt gingen die alten und die neuen Seher getrennte Wege, und jeder schloß seinen eigenen Pakt mit der Kraft«, fuhr er fort. »Die alten Seher strebten eine Kopie des menschlichen Körpers an, allerdings eine physisch widerstandsfähigere, und darum ließen sie ihren Montagepunkt am rechten Rande des menschlichen Bandes entlang gleiten. Je tiefer sie sich am rechten Rand vordrangen, desto exzentrischer wurde ihr Traumkörper. Gestern nacht hast du selbst das monströse Ergebnis einer solchen, tiefen Verschiebung am rechten Rand entlang miterlebt.«
    Die neuen Seher, sagte er, gingen einen ganz anderen Weg und ließen ihren Montagepunkt sich über die Mitte des menschlichen Bandes bewegen. Wenn es nur eine leichte Verschiebung sei, wie etwa das Überwechseln in den Zustand gesteigerter Bewußtheit, dann verhalte sich der Träumer beinah wie jeder normale Mensch auf der Straße, abgesehen von einer gewissen Anfälligkeit für Gefühlsregungen wie Furcht und Zweifel. Doch bei einem gewissen Maß an Tiefe verwandle sich der Träumer, der sich über die Mitte verschiebe, in eine Lichtblase. Die Lichtblase sei der Traumkörper der neuen Seher.
    Solch ein unpersönlicher Traumkörper, sagte er, motiviere denn auch eher zum Verstehenwollen und Erforschen - der Grundlage dessen, was alle neuen Seher täten. Der stark vermenschlichte Traumkörper der alten Seher habe sie motiviert, nach ähnlich persönlichen, vermenschlichten Antworten zu suchen. Auf einmal schien Don Juan nach Worten zu ringen. »Es gibt noch einen, der dem Tode trotzte«, sagte er, »und er ist den vier Gestalten, die du gesehen hast, so unähnlich, daß er sich selbst vom Durchschnittsmenschen auf der Straße kaum unterscheidet. Ihm ist das einzigartige gelungen, weil er seine Lücke öffnen und schließen kann, wie er will.« Don Juan spielte irgendwie nervös mit den Fingern. »Dieser Todes-Trotzer ist der alte Seher, dem der Nagual Sebastian im Jahre 1723 begegnete«, fuhr er fort. »Und diesen Tag bezeichnen wir als den Anfang unserer Schule, den zweiten Anfang. Dieser Todes-Trotzer, der seit Jahrhunderten auf Erden lebt, hat das Leben eines jeden Nagual, dem er begegnete, mehr oder minder nachhaltig verändert. Und er ist jedem Nagual unserer Schule begegnet - seit jenem Tag im Jahre 1723.« Don Juan schaute mich eindringlich an. Mich überfiel eine sonderbare Verlegenheit.

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