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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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kann.« Ich fragte ihn, ob man den Ursprung der Emanationen deshalb als Adler bezeichnet habe, weil dem Adler für gewöhnlich überlegene Eigenschaften zugeschrieben werden. »Hier geht es einfach um die ungefähre Gleichsetzung von etwas Unerkennbarem mit etwas Bekanntem«, antwortete er. »Was dies betrifft, so wurden schon viele Versuche gemacht, Adler mit Eigenschaften zu schmücken, die sie nicht haben. Aber so etwas geschieht meistens, wenn leicht beeinflußbare Leute Dinge zu tun lernen, die große Nüchternheit erfordern. Seher gibt es in allen Größen und Formen.«
    »Willst du damit sagen, daß es verschiedene Arten von Sehern gibt?«
    »Nein. Ich will sagen, daß es massenhaft Dummköpfe gibt, die Seher werden. Seher sind Menschen voller Schwächen, oder vielmehr, Menschen, voller Schwächen können Seher werden. Ähnlich wie im Falle von schwächlichen Leuten, die große Wissenschaftler werden können.
    Das gemeinsame Merkmal schwächlicher Seher ist, daß sie leicht bereit sind, das Wunder dieser Welt zu vergessen. Sie sind hingerissen von der Tatsache, daß sie sehen, und glauben, sie verdankten es ihrem Genie. Ein Seher müßte ein Muster an Vollkommenheit sein, um die beinah unüberwindliche Nachlässigkeit unserer menschlichen Kondition zu überwinden. Wichtiger als das Sehen selbst ist das, was der Seher anfängt mit dem, was er sieht.« »Was willst du damit sagen, Don Juan?«
    »Sieh nur, was gewisse Seher uns angetan haben. Da sitzen wir und kleben an ihrer Vision eines Adlers, der uns regiert und uns im Augenblick unseres Todes verschlingt.« An dieser Vorstellung, sagte er, sei etwas eindeutig Nachlässiges. Er persönlich könne keinen Gefallen finden an der Vorstellung, daß irgend etwas uns am Ende verschlinge. Wenn es nach ihm ginge, meinte er, sollte man zutreffender sagen, daß da eine Kraft sei, die unser Bewußtsein anzieht, ähnlich wie ein Magnet Eisenspäne anzieht. Im Augenblick des Sterbens löse unser Sein sich dann auf in der Anziehung dieser unendlichen Kraft. Daß dieser Vorgang als ein uns verschlingender Adler interpretiert werden konnte, fand er grotesk, denn es mache aus diesem unbeschreiblichen Akt etwas so Alltägliches wie das Gefressenwerden.
    »Ich bin ein sehr durchschnittlicher Mensch«, sagte ich. »Die Vorstellung eines Adlers, der uns verschlingt, macht einen starken Eindruck auf mich.«
    »Den wirklichen Eindruck kannst du erst in dem Augenblick ermessen, da du es selber siehst«, sagte er. »Aber du darfst nicht vergessen, daß wir unsere Schwächen behalten, auch nachdem wir Seher geworden sind. Wenn du also diese Kraft siehst, könntest du ohne weiteres den nachlässigen Sehern beipflichten, die sie als den Adler bezeichneten - wie ich selbst es getan habe. Vielleicht wirst du es aber auch nicht tun. Vielleicht wirst du der Versuchung widerstehen, dem Unvorstellbaren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, und tatsächlich einen neuen Namen dafür erfinden, einen zutreffenderen.« »Seher, die die Emanationen des Adlers sehen, bezeichnen sie oft als Befehle«, sagte Don Juan. »Ich selbst wäre einverstanden, sie Befehle zu nennen, hätte ich mich nicht daran gewöhnt, sie als Emanationen zu bezeichnen. Das war bei mir eine Reaktion gegen die Vorliebe meines Wohltäters; für ihn waren es Befehle. Dieses Wort, fand ich, entsprach eher seiner dominierenden Persönlichkeit als der meinen. Ich wollte lieber etwas Unpersönliches. Befehle, das klingt mir zu menschlich, aber das sind sie eigentlich - Befehle.«
    Die Emanationen des Adlers zu sehen, so meinte Don Juan, bedeute im Grunde, die Katastrophe heraufbeschwören. Die neuen Seher hätten gar bald die damit verbundenen, ungeheuren Schwierigkeiten entdeckt, und erst nach großer Bedrängnis und vielen Versuchen, das Unbekannte zu kartographieren und es von dem Unerkennbaren zu scheiden, hätten sie erkannt, daß alles, was ist, aus den Emanationen des Adlers besteht. Ein kleiner Teil dieser Emanantionen sei dem menschlichen Bewußtsein zugänglich, und auch dieser kleine Teil werde durch die Zwänge unseres Alltagslebens auf einen winzigen Bruchteil weiterverringert. Dieser winzige Bruchteil der Emanationen des Adlers sei das Bekannte; der kleine Teil, der überhaupt dem menschlichen Bewußtsein zugänglich sei, sei das Unbekannte, und der unermeßliche Rest sei das Unerkennbare.
    Und weiter erzählte er, daß die neuen Seher, in ihrer praktischen Gesinnung, alsbald der unwiderstehlichen Macht der

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