Das Feuer von Innen
dir vor - irgend etwas dort draußen macht sich unseren Sinnen bemerkbar. Das ist der reale Teil der Wahrnehmung. Der irreale Teil ist das, was unsere Sinne uns sagen, daß es dort draußen sei. Nehmen wir an, es sei ein Berg. Unsere Sinne sagen uns, es ist ein Gegenstand. Es hat Umfang, Farbe, Form. Wir haben sogar den Begriff Berg, und er trifft auch einigermaßen zu. Keine Einwände dagegen. Der Fehler ist der, daß wir nie auf die Idee gekommen sind, unsere Sinne könnten nur eine recht oberflächliche Rolle spielen. Unsere Sinne nehmen wahr, wie sie es tun, weil die besondere Beschaffenheit unseres Bewußtseins sie zwingt, so wahrzunehmen.«
Ich wollte ihm schon wieder zustimmen, aber nicht weil ich derselben Meinung gewesen wäre - ich hatte gar nicht verstanden, worauf er hinauswollte. Vielmehr wurde mir die Sache unheimlich. Er gebot mir Schweigen.
»Wenn ich >Welt< sage«, fuhr er fort, »so meine ich damit alles, was uns umgibt. Ich weiß natürlich ein besseres Wort, aber es wäre dir völlig unverständlich. Die Seher sagen, nur das Bewußtsein ist der Grund, warum wir annehmen, dort draußen sei eine Welt von Gegenständen. In Wirklichkeit sind dort draußen die Emanationen des Adlers - fließend, stets in Bewegung, doch unwandelbar, ewig.«
Er unterbrach mich mit einer Handbewegung, als ich zu der Frage ansetzte, was dies denn sei - die Emanationen des Adlers? Und dann erklärte er mir eine der größten Erkenntnisse der alten Seher, die sie uns als Vermächtnis hinterlassen hätten: daß nämlich der Existenzgrund aller empfindenden Wesen die Erweiterung des Bewußtseins sei. Don Juan nannte es eine kolossale Entdeckung.
In scherzhaftem Ton fragte er mich, ob ich vielleicht eine bessere Antwort wisse auf die alte Frage, die den Menschen seit jeher verfolge - die Frage nach dem Grund unserer Existenz. Ich ging sofort in die Defensive und ließ mich über die Sinnlosigkeit dieser Frage aus, weil sie doch logisch nicht zu beantworten sei. Um dieses Thema zu diskutieren, so sagte ich ihm, müßten wir uns über religiöse Glaubensvorstellungen verständigen - und damit liefe wohl alles auf eine Frage des Glaubens hinaus. »Die alten Seher hatten aber nicht nur Glaubensfragen im Sinn«, sagte er. »Sie waren zwar nicht so praktisch eingestellt wie die neuen Seher, aber sie waren doch praktisch genug, um zu wissen, was sie sahen. Was ich mit dieser Frage, die dich so aufgeschreckt hat, verdeutlichen wollte, ist die Tatsache, daß unsere Vernunft allein uns keine Antwort auf die Frage nach dem Grund unserer Existenz geben kann. Immer wenn sie es versucht, läuft die Antwort auf Glaubensfragen hinaus. Die alten Seher schlugen einen anderen Weg ein, und sie fanden dabei eine Antwort, die mehr war als bloßer Glaube.«
Unter unermeßlichen Risiken, so sagte er, sahen die alten Seher nämlich die unbeschreibliche Kraft, die der Ursprung aller empfindenden Wesen ist. Sie nannten sie den Adler, denn mit dem flüchtigen Blick, den sie überhaupt nur ertragen konnten, sahen sie etwas, das einem schwarz-weißen Adler von unendlicher Größe glich. Sie sahen, daß es der Adler ist, der Bewußtsein verleiht. Der Adler schafft alle lebenden Wesen, auf daß sie leben und ihr Bewußtsein bereichern, das er ihnen zusammen mit dem Leben schenkt. Sie sahen auch, daß es der Adler ist, der eben dieses bereicherte Bewußtsein verschlingt, da er die Lebewesen zwingt, es im Augenblick ihres Todes aufzugeben. »Für die alten Seher«, fuhr Don Juan fort, »war die Feststellung, daß der Grund unserer Existenz die Erweiterung des Bewußtseins ist, keine Frage des Glaubens oder der Logik. Sie sahen es. Sie sahen, daß das Bewußtsein der lebenden Wesen im Augenblick des Todes davonschwebt und wie ein leuchtender Wattebausch direkt in den Schnabel des Adlers fliegt, um verschlungen zu werden. Für die alten Seher war es der Beweis dafür, daß die lebenden Wesen nur leben, um dieses Bewußtsein zu bereichern, das die Nahrung des Adlers ist.«
Don Juans Ausführungen wurden unterbrochen, weil er eine kurze Geschäftsreise machen mußte. Nestor fuhr ihn nach Oaxaca. Während ich den beiden nachwinkte, erinnerte ich mich daran, daß ich am Anfang meiner Verbindung mit Don Juan, immer wenn er von einer Geschäftsreise sprach, der Meinung gewesen war, er gebrauche eine euphemistische Umschreibung für etwas anderes. Schließlich hatte ich erkennen müssen, daß er genau dies meinte, was er sagte. Immer wenn eine solche Reise
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