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Das Feuer von Innen

Das Feuer von Innen

Titel: Das Feuer von Innen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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Vollmacht hat ein Nagual. Die Nagual-Frau zum Beispiel nennt es das Haus der Schatten.«
    Unser Gespräch wurde unterbrochen, und ich sah ihn erst wieder, als er mich, ein paar Stunden später, in den rückwärtigen Patio holen ließ.
    Er und Genaro schlenderten am anderen Ende der Galerie auf und ab; ich sah sie mit den Händen gestikulieren - offenbar in angeregtem Gespräch. Es war ein klarer, sonniger Tag. Die Nachmittagssonne strahlte direkt auf einige Blumentöpfe, die rund um die Galerie von der Dachrinne herabhingen, und warf ihre Schatten auf die nördliche und östliche Mauer des Patio. Die Kombination von intensiv gelbem Sonnenlicht, tiefschwarzen Schatten der Blumentöpfe und den wunderbar zarten, kaum angedeuteten Schatten der zierlichen Blüten und Pflanzen darin war verblüffend. Offenbar hatte jemand, der einen scharfen Blick für Ausgewogenheit und Ordnung besaß, diese Pflanzen entsprechend gestutzt, um eine so köstliche Wirkung zu erzielen.
    »Die Nagual-Frau hat das getan«, sagte Don Juan, als könne er meine Gedanken lesen. »Sie pflegt am Nachmittag auf diese Schatten zu starren.«
    Die Vorstellung, wie sie hier nachmittags saß und die Schatten anstarrte, hatte auf mich eine heftige, beinah verheerende Wirkung. Das intensiv gelbe Licht dieser Stunde, die Stille dieser Stadt und die Liebe, die ich für die Nagual- Frau empfand, beschworen mir für einen Moment alle Einsamkeit des endlosen Pfades der Krieger.
    Was dieser Weg bedeutete, hatte Don Juan ausgesprochen, als er mir sagte, die neuen Seher wären Krieger einer absoluten Freiheit, und ihre Suche gelte einzig der endlichen Befreiung, die anbräche, wenn sie völlige Bewußtheit erlangten. Und während ich diese eindringlichen Schatten an der Wand betrachtete, verstand ich mit ungetrübter Klarheit, was die Nagual-Frau meinte, wenn sie sagte, daß das Vorlesen von Gedichten die einzige Entspannung für ihren Geist sei, die sie kenne. Heute erinnere ich mich daran, daß sie mir am Tag zuvor dort in dem Patio etwas vorgelesen hatte, aber da hatte ich ihre Inbrunst, ihre Sehnsucht nicht verstanden. Es war ein Gedicht von Juan Ramón Jiménez, »Hora Immensa«, das für sie, wie sie mir sagte, der Inbegriff der Einsamkeit des Kriegers sei, der nur lebt, um in die absolute Freiheit zu entschwinden.
     
    Nur eine Glocke und ein Vogel durchbrechen die Stille ... Es scheint, die beiden
    plaudern mit der sinkenden Sonne. Goldenfarbenes Schweigen, Nachmittag aus
    Kristallen geschaffen.
    Eine wehende Reinheit wiegt die Bäume, und jenseits all dessen
    träumt ein durchsichtiger Fluß, er werde Perlen zertrampelnd
    sich losreißen und in die Unendlichkeit fließen.
     
    Don Juan und Genaro kamen zu mir und sahen mich überrascht an.
    »Was machen wir eigentlich, Don Juan?« fragte ich. »Ist es möglich, daß die Krieger sich nur auf den Tod vorbereiten?« »Keineswegs«, sagte er und tätschelte mir sachte die Schulter. »Die Krieger bereiten sich darauf vor, bewußt zu sein, und volle Bewußtheit erlangen sie nur, wenn kein Eigendünkel mehr in ihnen übrig ist. Nur wenn sie nichts sind, werden sie alles sein.«
    Wir schwiegen einen Moment. Dann fragte mich Don Juan, ob mich das Selbstmitleid gepackt habe. Ich gab keine Antwort, denn ich war mir nicht sicher. »Du bedauerst doch nicht etwa, daß du hier bist, oder?« fragte Don Juan schwach
    lächelnd.
    »Natürlich tut er das nicht«, beteuerte ihm Genaro. Dann schien er einen Moment zu zweifeln. Er kratzte sich am Kopf, sah mich an und zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht tust du's doch«, sagte er. »Nicht wahr?«
    »Natürlich tut er's nicht«, versicherte Don Juan jetzt Genaro. Er vollführte die gleichen Gebärden, kratzte sich am Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Vielleicht tust du's«, sagte er. »Nicht wahr?«
    »Natürlich tut er's nicht!« donnerte Genaro, und beide brachen in hemmungsloses Gelächter aus. Als sie sich beruhigt hatten, erklärte mir Don Juan, daß der Eigendünkel die treibende Kraft hinter jedem Anfall von Schwermut sei. Der Krieger, so fügte er hinzu, habe ein Recht auf seine tiefe Traurigkeit, aber diese Traurigkeit sei nur dazu da, ihn zum Lachen zu bringen. »Genaro will dir etwas zeigen, das aufregender ist als alles Selbstmitleid, dessen du fähig bist«, sagte Don Juan. »Es hat etwas mit der Position des Montagepunktes zu tun.« Im nächsten Moment begann Genaro durch die Galerie zu laufen, den Rücken gekrümmt und die Schenkel bis an die Brust

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