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Das Feuer von Konstantinopel

Das Feuer von Konstantinopel

Titel: Das Feuer von Konstantinopel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingmar Gregorzewski
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der Mitte des Zimmers stehen blieb.
    „Esther... was hältst du davon, wenn ich einmal mit deinen Eltern spreche? Dein Geigenspiel ist ganz außergewöhnlich und ich könnte dir einen Platz am Konservatorium in Sankt Petersburg vermitteln. Das wird vielleicht – mit Gottes Hilfe – der Beginn einer großen Musikerkarriere für dich sein, mein Kind! Es wäre wirklich jammerschade, wenn du für den Rest deines Lebens eine einfache Tanzgeigerin bleiben würdest!“ Während sie sprach, sah sie Esther unentwegt in die Augen.
    Esther wich dem Blick aus und betrachtete für einen kurzen Moment die Geige in ihren Händen.
    „Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar. Aber ich habe bereits andere Pläne“, antwortete sie ganz ruhig.
    Erna Klimovskanowa wich zurück. Sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Sie war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden, erst recht nicht von einem Kind.
    „So!?! Das habe ich nicht gewusst“, sagte sie überrascht und betroffen.
    „Ich werde eine Diebin!“, sprach Esther weiter, als wäre der Beruf der normalste auf der Welt.
    „Eine Diebin?!“, wiederholte die Sängerin und lachte befreit auf. „Du bist wirklich ein ganz eigenwilliges Mädchen, Esther. Diebstahl nimmt ein schlimmes Ende. – Und überhaupt: Was willst du denn stehlen?“
    Ohne auf den spaßigen Tonfall einzugehen, ließ Esther die Sängerin einfach stehen und ging langsam hinüber zum Fenster. Draußen am Himmel zogen Wolken vor den Mond, der so nahe wirkte, dass man meinte, nach ihm greifen zu können.
    „Sie glauben mir nicht!“, sagte Esther traurig.
    Erna Klimovskanowa wurde nachdenklich. Hier stimmte doch etwas nicht.
    „Ehrlich gesagt, hoffe ich inständig, du machst Scherze mit mir!“, sagte die Sängerin voll Besorgnis und folgte dem Mädchen ans Fenster. Auch sie sah jetzt den Mond.
    „Ich wünschte, ich wäre nie hierher gekommen.“ Esthers Worte klangen dunkel. „Ich wünschte, ich wäre in meiner Welt geblieben. Meine Brüder, meine Eltern und Großeltern können lachen, wie es noch nie jemand hier im Schloss zu hören bekam. Sie müssen mal mit ihnen die Hora tanzen, wo einer den anderen hält, alle vereint in einem geschlossenen Kreis. Die Füße stampfen und jedes Herz schlägt mit dem anderen gleich. Das ist schön. Jedes Herz schlägt mit dem anderen gleich...“
    Erna Klimovskanowa nahm Esther die Geige aus der Hand und legte sie behutsam beiseite. Dann umfasste sie die Hände des Mädchens.
    „Hat euch der Kardinal in eine böse Geschichte verwickelt? – Habe Vertrauen zu mir. Mir kannst du alles sagen. Ich bin deine Freundin!“
    Auf einen Moment wie diesen hatte Esther sehnsüchtig gewartet, seit sie im Schloss war: Endlich spürte sie die Nähe eines Menschen, so, wie sie es von Zuhause gewohnt war.
    „Ich habe Angst um Baptist. Er findet sich nicht zurecht. Was soll er ohne mich tun? Wer hilft ihm, wenn ich in Sankt Petersburg bin? Ich kann ihn nicht alleine lassen. Er würde es nicht überleben. Und von irgendetwas müssen wir unser Brot kaufen. Also, wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages eine Diebin!“
    Beide sahen sie ihre blassen und unscharfen Spiegelbilder im Scheibenglas der Fenster reflektiert. Es wirkte, als blickten zwei Gespenster traurig und ratlos von außen in den kostbar ausgestatteten Raum.
    „Ich bin mir sicher, wir werden einen Ausweg finden“, sagte die Sängerin und fasste einen Entschluss, den sie jedoch dem Mädchen nicht mitteilte. „Jetzt muss ich gehen. Zurück auf den Ball. Man fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe. Schließlich war es meine Idee, auf diesem Wege für die Waisenkinder Geld zu sammeln. Mach’ dir keine Sorgen, Esther, es wird alles gut werden“, versicherte sie und schloss, den Blick voll Zuversicht, die Türe von außen.
    Esther war wieder alleine. Sie setzte die Geige unter das Kinn und begann zu spielen.
    Der Mond blieb träge an seinem Platz, als hätte er heute keine Lust weiterzuwandern, als wollte er das Mädchen mit der Geige nicht allein lassen.
     
    Vorsichtig pochte Felix an die Wand – er versuchte es an den verschiedensten Stellen. Nirgends ließ sich ein Hohlraum ausmachen. Vielleicht ein Stückchen weiter links? Nichts. Die Mauer wirkte auch an dieser Stelle massiv. Aufmerksam folgte sein Blick dem Palmenmuster der Tapete. Es zog sich gleichmäßig über die Wand. Palmenblätter griffen in Palmenblätter und bildeten ein schier undurchdringliches Dickicht. Nun strich Felix mit der Hand die Mauer entlang.

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