Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
Nachttopf zurück, den er stumm mit einem Gesichtsausdruck überreichte, als wolle er den ungebetenen Gästen Vorwürfe machen, dass sie ihn nicht nur aus dem Schlaf gerissen und in eine gewisse Gefahr gebracht hatten, sondern auch noch mit solch kreatürlichen Bedürfnissen geschlagen waren. Aber was hätte es gebracht, ihn zu fragen, ob denn er und seine Frau als einzige Menschen auf Gottes grüner Erde über diesen Dingen stünden, und ihn damit gewiss nur noch mehr zu verärgern?
Und so warteten sie dem Abend entgegen, der den kleinen, vom Glas beschmutzten und vom Fensterkreuz geviertelten Flecken Sonne in ihrem selbst gewählten Gefängnis zuerst die Wand hochtrieb, dann erglühen und ersterben ließ wie den Docht einer ausgeblasenen Kerze. Es wurde kühler in der Kammer, und das Paar schmiegte sich enger aneinander. Sie schauten einander in die Augen und gaben sich einen aufmunternden Kuss. Es war ein zärtlicher, liebevoller, warmer und wunderbarer Kuss – aber einer, der sich in Genügsamkeit gefiel, weil er sich nur als einer in einer fortdauernden Reihe von Küssen glaubte. Wie unzureichend hätten sie ihn gefunden, wie anders hätten sie ihn ausgekostet, hätten sie gewusst, dass es ihr letzter sein würde.
Es war nicht nur die Dunkelheit und der wild bewegte Ritt, die das Elternhaus vor ihrem Blick verbargen. Es war auch der Schleier von Tränen, den sie mit allem Blinzeln und Zähnezusammenbeißen nicht ganz zum Vertrocknen brachte, der die Konturen verwischte und die Welt um sie verfließen ließ. Ein Stück erhaschte sie dennoch von der weiß getünchtenWand des Gebäudes, das sich nahe des Dorfrands zwischen die anderen Häuser drückte. Dessen war sie sicher.
Aber schließlich erlaubte sie bloß noch einem stoßartigen, die Kehle bis tief hinab aufreibenden Schluchzer zu entkommen, und dann wischte sie sich das Nass aus den Augen und richtete den Blick mit aller Willenskraft nur noch nach vorne auf ihren Weg. Denn sie hatte Angst davor, dass Gewissheit wurde, was ihre Ohren jetzt wirklich mehr hörten als ahnten: dass man ihr auf den Fersen war.
Ihre eine, große Hoffnung war, dass ihre Jäger noch nicht sehen würden, dass sie am Dorf vorbeipreschte. Sie betete, dass man den Ort nach ihr absuchen würde, überprüfen, ob sie ein Versteck gefunden hatte. Das könnte ihr die entscheidenden Minuten bringen.
Immer schwerer wurde es, ihr Pferd noch zum Durchhalten des Galopps anzutreiben. In großen Flocken blies ihm der Schaum aus den Nüstern, die Frau glaubte durch Fell und Muskeln zu hören, wie der Atem keuchend durch seinen muskulösen Hals pumpte.
Wenigstens schien der dunkelste Tiefgrund der Nacht überwunden, nach und nach erwachten, noch farblos, die Dinge der Welt wieder von der Formlosigkeit zum Sein. Und es war nicht mehr weit bis zum Schlund des Tals. Die Häuser hatte sie jetzt alle hinter sich gelassen, sie war auf dem letzten Stück des Weges. Durchhalten, durchhalten, nur nach vorne schauen, so hämmerte es durch ihren Kopf, und sie beugte sich noch tiefer über den Hals des Pferdes und schlug dem Tier erbarmungslos ihre Füße in die Flanken.
Da hörte sie aufgeregte Rufe hinter sich.
Sie trauten sich kaum atmen, still aneinandergepresst kauerten sie in der Ecke der dunklen Vorratskammer und hielten sich gegenseitig die Hand vor den Mund. Aber der Atem gingso laut, dass man ihn draußen gewiss hören musste! Draußen, wo Hufgeräusche vor dem für die Nacht versperrten Laden zum Stehen gekommen waren und jemand hart und entschlossen gegen die Tür geklopft hatte. Und bestimmt, bestimmt würde man losschreien müssen, oder wie irr auflachen, weil man sonst die Anspannung nicht aushielt.
Aber sie blieben beide stumm, und sie hörten, wie draußen das Krämerpaar die Treppe herabkam und nach einem »Wer ist da?«, auf das sie die Antwort nicht verstehen konnten, die Ladentür aufriegelte. Eine große Menge schwerer Schritte stapfte daraufhin in den Verkaufsraum – es mussten mindestens drei, vier Männer sein, die da Einlass gefunden hatten.
»Mir suchen wen«, ertönte, jetzt auch für die Flüchtigen vernehmbar, die Stimme von einem von ihnen. Und die Frau wurde todblass, denn sie erkannte die Stimme nur zu gut.
Sie begann zu zittern, und ihr Mann nahm sie fester in den Arm, führte seinen Zeigefinger an den Mund und hauchte ein »Pssst!«.
Noch war nichts verloren.
Draußen leugnete der Krämer, das Paar gesehen zu haben, das ihm die Männer beschrieben. Nein, auch
Weitere Kostenlose Bücher