Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal
vorbeigekommen waren sie hier nicht, gewiss nicht. Aber seine Stimme hatte keinen sicheren Stand.
Noch einmal wurde er gefragt, und nun sprang ihm auch seine Frau bei. Vehement bekräftigte sie seine Angabe.
Für einen Moment herrschte darauf Ruhe.
Aber es schien gerade diese Vehemenz mehr Verdacht geweckt zu haben als die Verschüchtertheit des Krämers.
»So, so«, hörte man den ältesten der Brenner-Söhne – denn um niemand anderes handelte es sich – nachdenklich brummen. Und dann tat er ein paar Schritte, wohl auf die Frau zu.
Wieder herrschte Stille, und das junge Paar konnte sich nur zu gut vorstellen, wie der Bärtige aus nächster Nähe das Gesicht der Krämersfrau musterte. Sie hielten den Atem an.
Dann aber kehrten die Schritte um, die der anderen Männer gesellten sich dazu, und es war schon zu hören, wie die Ladentür geöffnet wurde.
Die Versteckten sahen sich mit großen Augen an, drückten sich, wagten die Vorahnung eines Lächelns, trauten sich aber noch nicht, ganz an ihr Glück zu glauben.
Da hielten die Schritte ein.
»Wennsd’ doch was siehst«, erklang – als hätte sie sich eben noch an etwas erinnert – die Stimme des Bärtigen, und man vernahm, wie er etwas hervornestelte, das in seiner Hand ein pralles, metallenes Klingen ertönen ließ. »Wennsd’ doch was siehst … ’s soll net zu dei’m Schaden sein«, versprach er.
Die Anflüge von Lächeln verließen die Gesichter des Paares.
Wieder gab es eine Pause.
Und dann fiel die Ladentür ins Schloss.
Aber es waren zuvor keine Schritte erklungen, die hinausgeführt hätten.
Der Mann und die Frau wurden bleich. Sie hatten nicht gehört, dass die Krämerin dem Brenner-Sohn geantwortet hätte. Aber einen Atemzug später wurde ihnen klar, dass der Verrat wortlos erfolgt sein musste, durch wohlweislich stumme, ihrerseits zum Stillsein auffordernde Blicke und Gesten. Denn auf einmal polterten die Schritte einer ganzen Gruppe durch den Laden.
Der Mann war aufgesprungen in seinem Versteck, um einen Fluchtweg zu suchen oder wenigstens eine Möglichkeit, sich zu verteidigen.
Es war zu spät. Einen Herzschlag später flog krachend die Tür zum Lagerraum auf.
Ihre letzten Minuten in dem finsteren, engen, höllischen Hochtal waren wie ein Rausch von Huf- und Herzschlag, keuchendem Atem, ausgelöst von der fast körperlich ihr Inneres zerreißenden Angst, dass sie es nicht schaffen würde.
Ihre Ohren verstärkten jeden Laut, der von hinten an sie drang, ins Riesenhafte. Die Frau meinte geradezu zu spüren, wie sich die Arme der Verfolger schon nach ihr ausstreckten und nur knapp an ihr vorbeihaschten. Bis ein Blick nach hinten – zwischen Achsel und Körper hindurch, um ihre fast liegende Haltung auf dem Pferd nicht aufgeben zu müssen – sie versicherte, dass in Wahrheit ihre Jäger erst noch kleine Punkte am Rande zur Sichtbarkeit waren.
Allein, verloren in den Ausläufern der Nacht, inmitten der undeutlichen Felder reitend, rasend, die Todesgefahr hinter ihr grade an der Grenze zum Greifbaren: dieser Moment schien sich auf einmal ins Unendliche auszudehnen, er fraß alle Vergangenheit und Zukunft. Für einige fatale Sekunden war die Fliehende überzeugt, dass der hastende Rhythmus der Körper sich nur noch endlos wiederholend durch die Zeit erstrecken könnte, aber keine Bewegung vorwärts im Raum möglich war. Es fehlte nicht viel, dass sie über dieser Illusion tatsächlich den Verstand verloren hätte.
Da aber wurde buchstäblich ein Ende, wurde die Hoffnung auf Rettung sichtbar. Vor ihr wurde die Fläche schmal und dunkel, es schälte sich die Stelle aus Vormorgengrau und Frühmärzdunst, an der die Wände des Talkessels sich schlossen und der Hochebene ihre Grenze setzten. Es war eigentlich ein Anblick der Beklemmung und des Eingeschlossenseins, aber der Fliehenden gab er noch einmal Kraft. Denn er war für sie Zeichen, dass diese abgeschlossene Welt, die ihr so Ungeheuresangetan hatte, antun wollte, ein Ende kannte. Dass in Wahrheit ihre Verfolger selbst schon immer Gefangene waren in dem engen Kosmos, den sie sich selber schufen.
Sie riss sich zurück von der Klippe zur Verzweiflung, und ihre Entschlossenheit kehrte wieder. Sie würde nicht aufgeben, jetzt nicht mehr, solange noch ein Funken Leben in ihrem Leib war.
Sie raste auf die felsige Wand zu, schwarzgrau, starr und gleichgültig, die ihr Heil bedeutete.
Drei Männer drangen in die Vorratskammer, und der Kampf war entschieden, bevor er recht begonnen hatte.
Weitere Kostenlose Bücher