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Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal

Titel: Das finstere Tal - Willmann, T: Das finstere Tal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Willmann
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Ein umgeworfenes Regal, geschleuderte Töpfe und Krüge, ein herausgerissenes Brett als improvisierte Waffe genügten nur für Sekunden, das Unausweichliche hinauszuzögern. Ein Hieb des Schmieds gegen die Schläfe ließ den Gestellten auf den Boden sacken, als hätte man ihn dort hingeschüttet wie einen Eimer Kohle. Und dass die Frau den Bärtigen, als der sie packte und hochriss, in die Hand biss, das entlockte dem nach einem kurzen Schrei mehr der Überraschung als des Schmerzes nur ein kräftiges Lachen.
    So wurde das Paar aus dem Laden geführt, geschleift, und die Frau erhaschte einen letzten Blick auf die Krämersleute. Der Mann hatte sich hinter den Tresen verdrückt und mied ihre Augen, blickte verschämt auf seine Schuhe. Die Krämersfrau aber, einen prallen Lederbeutel in einer Hand, erwiderte stumm herausfordernd den Blick und schien mit ihren zusammengepressten, an den Mundwinkeln selbstgefällig sich nach oben beugenden Lippen zu sagen: ›So ergeht es Leuten, die sich dem Gewohnten widersetzen. Die anderen Leuten unwillkommene Scherereien machen. Und vor allem die nicht genug zahlen. Und es geschieht ihnen recht.‹
    Bald waren sie, aus sicherem Abstand, aber mitleidlos beobachtetvon manchem Talbewohner, unter ersten, noch zurückhaltenden Schlägen und verachtenden Worten an den Rand des Dorfs gebracht, in die Nähe einer Scheune. Und der eine Brenner-Sohn hatte die Frau gepackt und im Staub in die Knie gezwungen, und die anderen hatten sich – nun ernsthaft und methodisch in ihrer Gewalt – über den Mann hergemacht. Und Breiser, der Pfarrer, hatte das Gesicht der Frau gepackt und gebrüllt: »Schau hin!«
    Wie sie es geschafft hatte, vermochte sie später selbst nicht mehr wirklich zu sagen. Geordnetes Bewusstsein und Erinnerung setzten erst wieder viel später ein, als sie in Sicherheit war. Als ein Bauer sie auf dem Weg zu seinen Feldern aufgelesen hatte, ohnmächtig, mit zerrissenem Gewand, zerschundenen Knien und Händen, und sie in die nächste Ortschaft am Fuß der Berge gebracht hatte. Wo sie in einem frisch bezogenen Bett in einer hellen Schlafstube die Augen auftat und sich für einen Moment im seligen Jenseits wähnte.
    In ihren Träumen aber waren die Bilder von ihren letzten Minuten im Hochtal noch lebendig: wie in der Wand die Spalte erkennbar geworden war, durch die der einzige Weg in die Freiheit führte, sie ihn erreicht, mit einem Zügelriss das schaumspeiende, augenrollende Pferd zum Stehen gebracht hatte, das unter ihr, restlos entkräftet, halb zusammenbrach, sodass sie mehr aus dem Sattel flog und rollte als sprang. Und plötzlich war sie
draußen
gestanden, hatte zum ersten Mal in ihrem bewussten Leben einen anderen Horizont vor Augen als den Steinkessel des Hochtals, hatte weit unter sich schier endlos scheinende Wiesen, Felder, Wälder und Orte gesehen, die in der unsichtbaren Ferne erst dort endeten, wo der Himmel begann, und an diesem Saum sog sich ein erstes, zaghaftes Blau in den schwarzen Samtvorhang der Nacht.
    Es war wohl gut, dass sie in ihrer Panik außer sich war, dass ihr Bewusstsein keine Mitsprache hatte, sondern nur Instinkt und blinde Muskelweisheit sie trugen, dass kein Gedanke ihr die Unmöglichkeit und Lebensgefährlichkeit dessen vorführen konnte, was sie tat. Sie flog gleichsam den Berg hinab, ihr rasender Schritt fand, schien es, manchmal den Kontakt mit dem Boden nur noch, wie große Vögel beim Aufschwingen ein-, zweimal mit den Füßen die Erde berühren, bevor ihre Flügel sie endlich vollends tragen. Und ein-, zweimal verlor die Frau tatsächlich den Halt, stürzte kopfüber die Steile hinunter. Aber immer fing sie sich im Fallen, fand noch im Sichüberschlagen wieder auf die Beine, nahm den rasenden Lauf auf, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Und sie hörte keine Verfolger mehr hinter sich.
    Sie fand nie heraus, ob man sie verloren und freigegeben hatte, sobald sie das Hochtal verlassen hatte, oder ob nur die Jäger – den Wahnsinn mangelnd, den ihre Angst ihr verlieh – keine Chance fanden, den Abstieg annähernd halsbrecherisch schnell anzugehen und deshalb schließlich zu weit zurückblieben.
    Sie jedenfalls hörte nicht auf zu rennen, bis der Boden unter ihren Füßen eben geworden war, die Bergwand ein gutes Stück hinter ihr lag und sie sich, während die ersten Sonnenstrahlen an den Wolken nah des Horizonts leckten, auf einem Feldweg wiederfand, umringt von Äckern mit zart grünenden Keimen. Wo sie für einen Augenblick ihren

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