Das Flammende Kreuz
angenehmer.
Ich tippte mit der Gänsefeder auf den Tintenlöscher und malte kleine Tintenpunkte, die sich in dem grobfaserigen Papier ausbreiteten und eine Galaxie aus winzigen Sternen bildeten. Was das anging - so gab es noch eine andere Möglichkeit. Der Tod konnte auch durch einen Lungenembolus verursacht worden sein - einen Blutklumpen in der Lunge. Das war eine denkbare Komplikation der Sepsis, die auch die Symptome erklärt hätte.
Es war ein hoffnungsvoller Gedanke, dem ich allerdings kein großes Vertrauen schenkte. Es war die Stimme der Erfahrung, die mich im Einklang mit der Stimme meines Gewissens den Kiel eintauchen und »Anaphylaxis« schreiben ließ, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
War der Fachbegriff Anaphylaxis überhaupt schon bekannt? In Rawlings’ Notizen war er mir nicht untergekommen - doch ich hatte sie ja auch noch nicht ganz gelesen. Es kam zwar zu jeder Zeit vor, dass Menschen an allergischen Schockreaktionen starben, doch es geschah nicht oft, und vielleicht war es ein Phänomen, das keinen Namen hatte. Besser, es dem Leser detailliert zu beschreiben, wer er auch immer sein mochte.
Und das war natürlich der Punkt. Wer würde es lesen? Ich hielt es zwar für unwahrscheinlich, doch was, wenn ein Fremder es las und mein Protokoll für ein Mordgeständnis hielt? Das war weit hergeholt - doch es konnte geschehen. Ich war schon einmal gefährlich dicht daran gewesen, als Hexe verbrannt zu werden, unter anderem wegen meiner Tätigkeit als Heilerin. Fast gebranntes Kind scheut das Feuer, dachte ich sarkastisch.
Beträchtliche Schwellung des betroffenen Arms , schrieb ich, und als das letzte Wort verblasste, weil keine Tinte mehr da war, hob ich die Feder. Ich tauchte den Kiel erneut in die Tinte und kritzelte dienstbeflissen weiter. Die Schwellung dehnte sich auf Oberkörper, Hals und Gesicht aus. Haut bleich mit rötlichen Flecken. Atmung zunehmend schnell und flach, Herzschlag sehr schnell und so schwach, dass er oft kaum zu hören war. Deutliches Herzklopfen. Zyanose der Lippen und Ohren. Fortgeschrittene Exophtalmie.
Ich schluckte erneut, als ich daran dachte, wie Rosamunds Augen unter den Lidern hervorgequollen und in verständnislosem Schrecken umhergerollt waren. Wir hatten versucht, sie zu schließen, als wir die Leiche wuschen und sie zum Begräbnis aufbahrten. Es war üblich, das Gesicht eines Toten für die Totenwache zu entblößen; in diesem Fall hielt ich das aber für unklug.
Am liebsten hätte ich den Sarg gar nicht mehr angesehen, tat es aber dennoch, mit einem kleinen Nicken des Grußes und der Entschuldigung. Brianna drehte mir den Kopf zu, dann wandte sie sich abrupt ab. Der Duft des
Essens, das für die Totenwache aufgetischt wurde, begann, das Zimmer zu füllen und vermischte sich mit dem Geruch des Eichenholzfeuers und der Tinte aus Eichengalle - und des frisch gehobelten Eichenholzes der Sargbretter. Ich trank hastig noch einen Schluck Tee, um zu verhindern, dass mir die Galle hochkam.
Ich wusste sehr gut, wieso der hippokratische Eid darauf bestand, »Schädigung und Unrecht aber auszuschließen«. Es war verdammt einfach, Unrecht anzurichten. Welche Hybris doch dazu gehörte, Hand an einen Menschen zu legen, sich einzumischen. Wie empfindlich und komplex war der menschliche Körper! Wie grob die Eingriffe des Arztes.
Ich hätte die Abgeschiedenheit meines Sprechzimmers oder des Schreibzimmers aufsuchen können, um diese Aufzeichnungen zu verfassen. Ich wusste, warum ich es nicht getan hatte. Das grobe Leichentuch aus Musselin leuchtete weiß im regnerischen Licht des Fensters. Ich klemmte mir den Federkiel fest zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, nicht mehr daran zu denken, wie der Ringknorpel zur Seite gesprungen war, als ich Rosamund ein Taschenmesser in den Hals gerammt hatte, ein letzter, vergeblicher Versuch, Luft in ihre kämpfenden Lungen strömen zu lassen.
Und doch... es gab keinen einzigen praktizierenden Arzt, so dachte ich, der sich noch nie in einer solchen Situation befunden hatte. Es war mir schon ein paar Mal passiert, sogar in einem modernen Krankenhaus, das mit allen lebensrettenden Mitteln ausgestattet war, die der Menschheit zur Verfügung standen - damals.
Auch hier würde irgendwann ein unbekannter Arzt der Zukunft vor dem gleichen Dilemma stehen; eine möglicherweise gefährliche Behandlung durchzuführen oder einen Patienten sterben zu lassen, der vielleicht hätte gerettet werden können. Und das war mein
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