No & ich: Roman (German Edition)
M ademoiselle Bertignac, ich vermisse Ihren Namen auf der Referatsliste.«
Monsieur Marin fasst mich von ferne ins Auge, mit erhobener Braue und entspannt auf dem Schreibtisch liegenden Händen. Ich habe seinen Langstreckenradar nicht bedacht. Ich habe auf Aufschub gehofft und werde nun in flagranti erwischt. Fünfundzwanzig Augenpaare sind auf mich gerichtet und erwarten eine Antwort. Das Hirn wurde bei einem Fehltritt ertappt. Axelle Vernoux und Léa Germain kichern lautlos hinter vorgehaltener Hand, ein Dutzend freudig klingelnder Armbänder an ihren Handgelenken. Wenn ich hundert Kilometer tief unter der Erdoberfläche verschwinden könnte, irgendwo in der Lithosphäre, das wäre mir jetzt eine echte Hilfe. Ich habe einen Horror vor Referaten, ich habe einen Horror davor, vor der Klasse zu sprechen, vor mir tut sich die Erde auf, doch nichts rührt sich, nichts bricht in sich zusammen, am liebsten würde ich ohnmächtig, hier und jetzt, wie vom Blitz gefällt würde ich in meiner vollen Kürze hinschlagen, umgeben von einem Fächer aus Turnschuhen, mit ausgebreiteten Armen, und Monsieur Marin würde an die Tafel schreiben: »Hier ruht Lou Bertignac, die stumme, asoziale Klassenbeste.«
»… Ich wollte mich gerade eintragen.«
»Schön. Und mit welchem Thema?«
»Die Obdachlosen.«
»Das ist ein wenig allgemein, könnten Sie das präzisieren?«
Lucas lächelt mir zu. Seine Augen sind riesig, ich könnte darin ertrinken, darin verschwinden, oder ich könnte Monsieur Marin samt der ganzen Klasse von der Stille verschlucken lassen, ich könnte meinen Eastpak-Rucksack nehmen und wortlos hinausgehen, wie Lucas es so gut kann. Ich könnte mich entschuldigen und zugeben, dass ich keine Ahnung habe, ich habe das nur so gesagt, ich denke noch mal drüber nach, und nach der Stunde würde ich zu Monsieur Marin gehen und erklären, dass ich das nicht kann, ein Referat vor der ganzen Klasse zu halten, das übersteigt einfach meine Kräfte, tut mir wirklich leid, ich würde notfalls ein ärztliches Attest beibringen, krankhafte Unfähigkeit zu Referaten aller Art, mit Stempel und allem Drum und Dran, dann wäre ich davon befreit. Doch Lucas sieht mich an, und mir ist klar, dass er erwartet, mir werde etwas einfallen, er ist auf meiner Seite, er denkt, ein Mädchen wie ich könne sich nicht vor dreißig Mitschülern lächerlich machen, er hat die Hand zur Faust geballt, es fehlt nicht viel, und er schwingt sie über seinem Kopf wie die Fans, die im Stadion die Fußballspieler anfeuern, doch plötzlich wird die Stille lastend, man fühlt sich wie in der Kirche.
»Ich werde den Weg einer obdachlosen jungen Frau beschreiben, ihr Leben, also … ihre Geschichte. Ich meine … wie sie auf der Straße gelandet ist.«
Ein Beben geht durch die Reihen, man hört Getuschel.
»Sehr gut. Das ist ein schönes Thema. Jedes Jahr werden mehr obdachlose Frauen registriert, und sie werden immer jünger. Auf welche Dokumente und Quellen wollen Sie sich dabei stützen, Mademoiselle Bertignac?«
Ich habe nichts mehr zu verlieren. Oder so viel, dass es sich an den Fingern einer Hand nicht abzählen lässt, nicht einmal an den Fingern von zehn Händen, es geht gegen unendlich.
»Den … den Erlebnisbericht. Ich werde eine junge Obdachlose interviewen. Gestern haben wir uns getroffen, sie ist einverstanden.«
Andächtige Stille.
Monsieur Marin notiert auf seinem rosa Blatt meinen Namen und mein Referatthema, ich trage Sie für den 10. Dezember ein, dann haben Sie genug Zeit für zusätzliche Recherchen, er erinnert noch an ein paar allgemeine Regeln, nicht länger als eine Stunde, eine sozioökonomische Untersuchung, Beispiele, seine Stimme wird leiser, Lucas’ Faust hat sich geöffnet, ich habe durchsichtige Flügel, ich schwebe über den Tischen, ich schließe die Augen, ich bin ein winziges Staubkorn, ein unsichtbares Partikel, seufzerleicht. Es klingelt. Monsieur Marin erlaubt uns, den Klassenraum zu verlassen, ich räume meine Sachen zusammen und ziehe meine Jacke über, da spricht er mich an.
»Mademoiselle Bertignac, auf ein Wort noch.«
Das war’s dann wohl mit der Pause. Den Streich hat er mir schon einmal gespielt. In seiner persönlichen Zählung steht ein Wort für Tausende. Die anderen trödeln herum, sie sind neugierig. Inzwischen sehe ich auf meine Füße, mein Schnürsenkel ist offen, wie gewöhnlich. Wie kommt es, dass ich mit meinem IQ von 160 zu blöd bin, mir die Schuhe zuzubinden?
»Passen Sie bei diesem
Weitere Kostenlose Bücher