Das fliegende Klassenzimmer.
nicht so schlimm, wenn man sich zusammennimmt. Na also!
Dass ich dir und Vater diesmal nichts schenken kann, weißt du ja, gutes Muttchen! Nächstes Jahr gebe ich vielleicht einem von den neuen Sextanern Nachhilfeunterricht, und da hab ich dann viel Geld. Großartig, was?
Aber ich habe euch ein Bild gemalt. >In zehn Jahren< heißt es, und ihr werdet’s schon verstehen. Man sieht darauf, wie ich euch in einer blauen Kutsche bis über die Alpen gefahren habe. Ich lege es in den Brief und muss es zweimal zusammenklappen. Sonst geht es nicht in den Umschlag hinein. Und hoffentlich gefällt es euch. Ich kann es eben noch nicht schöner und habe vierzehn Tage daran gemalt. Und nun, mein gutes Muttchen, muss ich schließen, weil zum Abendessen geklingelt wird, und ich muss doch hinterher noch rasch zum Briefkasten.
Behaltet mich ja recht lieb, auch wenn ich zu Weihnachten nicht nach Hause kann. Und seid nicht traurig! Ich bin es auch nicht. Verlass dich drauf! Nein, ich gehe rodeln und denke stets an euch. Es wird bestimmt sehr lustig. Viele, viele, viele Grüße für dich und Vater
von eurem braven Sohn Martin.«
Der Postbote, der den Briefkasten leerte, wusste nicht, wie viele Seufzer in seine große Tasche plumpsten. Und Doktor Bökh und der Nichtraucher wussten es ebenso wenig.
Das zehnte Kapitel
...enthält den letzten Unterrichtstag vor den Ferien; einen Spaziergang in Kirchberg und mehrere Begegnungen; noch eine Tafel Schokolade für Matthias; die Weihnachtsfeier in der Turnhalle; einen unerwarteten Zuschauer; was er geschenkt bekommt und was er sagt; und einen Augenblick neben Martins Bett.
Der nächste Tag war der letzte Unterrichtstag. Am 23. Dezember kann kein Lehrer von seinen Schülern verlangen, dass sie für die Entstehung der Elektrizität oder für den Infinitiv mit zu, für die Zinsrechnung oder für Kaiser Heinrich in Canossa das nötige Interesse aufbringen. Kein Lehrer auf der ganzen Welt kann das verlangen!
Es verlangt ja auch keiner. Das war im Johann Sigismund-Gymnasium in Kirchberg nicht anders. - Die meisten Internen hatten schon begonnen, ihre Koffer zu packen. Sie freuten sich auf die Weihnachtsfeier in der Turnhalle. Sie freuten sich auf die morgige Reise mit der Eisenbahn. Sie freuten sich auf die Geschenke, die sie zu Hause kriegen würden. Sie freuten sich über die Geschenke, die sie den Eltern und Geschwistern mitbringen wollten.
Sie freuten sich wie die Schneekönige, waren quietschvergnügt und mussten sich mächtig zusammennehmen, dass sie nicht mitten im Unterricht auf die Bänke kletterten und dort zu tanzen anfingen.
Die Lehrer nahmen notgedrungen auf die geistige Unzurechnungsfähigkeit ihrer Zöglinge Rücksicht und ließen Märchen und Sagen vorlesen oder erzählten selber Geschichten, vorausgesetzt, dass ihnen welche einfielen.
In der allerletzten Stunde hatten die Tertianer Erdkunde bei Doktor Bökh. Er brachte ein Buch mit, in dem die schönsten Fabeln der Weltliteratur gesammelt waren, und ließ reihum einige dieser kurzen, bedeutungsvollen Geschichten vorlesen, die fast immer von den Tieren handeln und fast immer die Menschen meinen.
Auch Martin kam an die Reihe. Er stotterte. Er versprach sich.
Er übersprang zwei Zeilen und merkte es nicht. Er las so, als ob er das Lesen erst gestern gelernt habe. Ein paar Tertianer lachten. Johnny blickte besorgt herüber.
»Das war ja eine Glanzleistung«, sagte der Justus. »Du bist wohl mit deinen Gedanken schon in Hermsdorf unterm Christbaum? Warte es nur ab. Du kommst noch früh genug zu deinen Eltern!«
Martin senkte den Kopf und befahl sich: >Weinen ist streng verboten! Weinen ist streng verboten! Weinen ist streng verboten!< Schon gestern Abend, als er nicht einschlafen konnte, hatte er diesen Satz immer wieder in sich hineingemurmelt. Mindestens hundertmal.
Der Justus gab das Fabelbuch dem Nächsten, sah den Primus bis zum Schluss der Stunde öfters von der Seite an und schien sich zu wundern.
Martin starrte auf seine Bank und traute sich nicht, hochzublicken.
Mittags brachte der Postbote das Paket, das die Mutter brieflich angekündigt hatte. Das Paket mit den Weihnachtsgeschenken! Martin schaute gar nicht hinein, nahm es unter den Arm und trug es ins Schrankzimmer. Gerade als er den Schrank aufgeschlossen hatte und das Paket hineinstellte, kam Matthias vorbei. Er schleppte einen großen Koffer. Er wollte packen.
»Nanu, woher kriegst du denn heute noch ein Paket?«, fragte er.
»Von zu Hause«, antwortete
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