Das fliegende Klassenzimmer.
schon reichlich alt. Er hat eine große Praxis. Ich kann mir nicht denken, dass es ihm viel ausmacht, wenn er dich zu seinem Nachfolger für unsere Penne vorschlüge. So viel wie als Klavierspieler verdientest du dann auch. Und in deinem Eisenbahnzug könntest du auch wohnen bleiben. Hm? Was hältst du von dem Vorschlag? Soll ich den alten Hartwig mal fragen?«
»Meinetwegen!«, entgegnete der Nichtraucher. »Wenn es dir Spaß macht, dann frage ihn. Aber, mein Guter, glaube nicht, dass ich dadurch froher werde, dass ich eines Tages wieder Aspirin verschreibe. Und komme mir bloß nicht mit der Redensart, dass man nicht ohne Ehrgeiz leben solle. Es gibt nämlich viel zu wenig Menschen, die so leben, wie ich’s tue.
Ich meine natürlich nicht, dass sie alle Klavierspieler in zweifelhaften Lokalen werden sollten. Ich wünschte aber, es gäbe mehr Menschen, die Zeit hätten, sich an das zu erinnern, was wesentlich ist. Geld und Rang und Ruhm, das sind doch kindische Dinge! Das ist doch Spielzeug und weiter nichts.
Damit können doch wirkliche Erwachsene nichts anfangen.
Hab ich Recht, Alter?« Er machte eine Pause. »Aber natürlich, wenn ich mich um deine Gymnasiasten kümmern dürfte, dass sie hübsch gesund bleiben - das wäre keine ganz hässliche Beschäftigung. Ich brauchte ja auch nur über den Zaun zu klettern, wenn wer krank wäre. Und Blumen züchten und Bücher lesen, das könnte ich außerdem. Also schön, altes Haus, frage deinen ollen Sanitätsrat einmal! Und wenn er mit dem Kopf schütteln sollte, haue ich hier weiter auf die Tasten.
Bevor Martin und Johnny, Matthias, Uli und Sebastian ihr Abitur gemacht haben, gehe ich jedenfalls aus meinem Schrebergarten nicht heraus.«
»Und ich nicht aus meinem Turmzimmer«, sagte der Justus, »Es sind doch Prachtkerle!«
Und dann tranken sie einander zu.
»Dass der kleine Uli bald gesund wird!«, rief der Nichtraucher.
Und sie stießen mit den Gläsern an. Dann erzählten sie einander, was sie von dem Krieg mit den Realschülern wussten.
Der Justus lächelte seinem Freunde zu. »Sie haben uns beide gern, die Lausejungen«, meinte er.
Der Nichtraucher nickte fröhlich und sagte: »Haben sie etwa nicht Recht?«
Dann musste er schon wieder an das verstimmte Klavier. Die Herrschaften wollten tanzen.
Nach Mitternacht gingen sie, quer durch die ganze Stadt, nach Hause. Viele Geschichten aus ihrer Jugend fielen ihnen ein.
Wie lange das her war! Aber es war hier gewesen! In denselben Straßen, durch die sie heute Nacht spazierten! Und was war aus den anderen geworden, die vor zwanzig Jahren mit ihnen die Schulbank gedrückt hatten? Von etlichen wussten sie etwas. Aber was war aus den anderen geworden?
Über ihnen schimmerten die Sterne. Es waren dieselben Sterne wie damals.
An der Ecke Nordstraße leerte der Postbote gerade den Briefkasten.
»Wie oft ist man damals zu diesem Kasten gerannt!«, meinte der Justus.
»Mindestens zweimal in der Woche«, sagte der Nichtraucher nachdenklich. »Wenn ich seltener schrieb, dachte meine Mutter, mir sei etwas passiert.«
In dem Briefkasten, den der Postbote leerte, befand sich übrigens ein Brief an Herrn und Frau Thaler in Hermsdorf. Auf der Rückseite stand: »Absender Martin Thaler, Kirchberg, Gymnasium«.
»Der Briefkasten ist der alte geblieben«, meinte der Justus.
»Aber der Postbote ist nicht mehr derselbe.«
Der Brief, von dem eben die Rede war, lautete folgendermaßen:
»Meine liebe, gute Mutti!
Erst kriegte ich einen Schreck, weißt du. Aber da es doch nicht zu ändern ist, kann man nichts machen. Ich habe auch kein bisschen geweint. Kein einziges Tröpfchen. Und ich versprech dir’s und dem Vater. Kuchen und Schokolade kaufe ich mir bei Bäcker Scherf. Da ist es furchtbar billig, sagt der Matthias.
Rodeln gehe ich auch, wenn es euch Freude macht. Ganz bestimmt. Du kannst dich darauf verlassen. Und vielen, vielen Dank für das Geld. Ich gehe am Heiligen Abend auf die Post und tausch es um.
Es sind die ersten Weihnachten, wo wir uns nicht sehen, und das ist natürlich sehr traurig. Aber ihr kennt mich ja. Wenn ich mich nicht unterkriegen lassen will, tu ich’s nicht. Wozu ist man schließlich ein Mann! Auf das Paket morgen freu ich mich riesig. Ich werde mir ein paar Tannenzweige aufs Pult stellen, und Kerzen gibt es auch. Außer mir bleibt noch der Johnny hier. Ihr wisst ja, warum. Und der Uli, der hat das rechte Bein gebrochen. Das ist noch viel ärgerlicher, was? Johnny hat gesagt, es sei gar
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