Das Flüstern der Albträume
senkte, stockte ihr der Atem. Das Foto zeigte eine junge Frau, nicht älter als sie selbst. Sie hatte hellblondes Haar und einen hellen Teint. Einen Augenblick lang konnte Eva weder atmen noch denken. Sie war als Mörderin gebrandmarkt worden, und doch hatte sie noch nie dem Tod ins Gesicht gesehen.
Das Foto der Frau rief entfernte Erinnerungen in ihr wach, aber sie konnte die schattenhaften Bilder nicht fassen. Wer war diese Frau? Hatte sie sie im Pub oder vielleicht irgendwo auf der Straße gesehen?
Eva räusperte sich. »Ich kenne sie nicht.«
»Sind Sie sich da sicher? Sie haben sie ganz schön lange angeschaut.«
»Wahrscheinlich erschrickt man einfach, wenn man den Tod sieht.« Sie gab ihm das Foto zurück und bemühte sich, ihre Hände ruhig zu halten. »Wie ist sie gestorben?«
»Das darf ich Ihnen leider nicht sagen.« Er betrachtete sie einen Moment lang eindringlich. »Sagen Sie es mir, wenn Ihnen etwas einfällt?«
»Klar.«
Sie ging auf den Transporter zu und betete darum, dass ihre Beine nicht unter ihr nachgaben. Wieso wurde ihr Leben auf einmal derart auf den Kopf gestellt?
Angie hielt eine Dose Ginger Ale und eine Packung Cracker im Arm, als sie die Eingangstür der Rechtsanwaltskanzlei Wellington und James aufschloss. Das Büro war in einem Backsteinhaus untergebracht, das Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden war. Ein Türklopfer aus Messing zierte die glänzend schwarze Haustür. Rechts und links des Eingangs befanden sich je zwei Fenster aus mundgeblasenem Glas, vor denen Metallkästen mit in Form geschnittenen Grünpflanzen standen. Das Gebäude befand sich an einem dreispurigen Abschnitt der Cameron Street in der Nähe des Potomac River.
Charlotte Wellington hatte Angie eine Teilhaberschaft versprochen, falls sie das Geschäft belebte. Bisher hatte sie das getan. Im letzten Jahr hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, neue Mandanten zu gewinnen und mehr als siebzig Wochenstunden zu arbeiten. Für nächste Woche, wenn Charlotte aus dem Urlaub zurückkehrte, war ein Gespräch über die Teilhaberschaft angesetzt.
Angie ließ die Schlüssel in ihre Handtasche fallen und stieß die Eingangstür mit dem Fuß zu. Orientteppiche, Landschaftsgemälde und eine dezente grüne Tapete verliehen dem Eingangsbereich eine konservative Note, die an das historische Virginia und an Wohlstand gemahnte.
Charlotte sagte immer, Rechtsanwälte müssten einen gewissen Stil pflegen, um die richtigen Mandanten anzuziehen. Das Einzige, was nicht zu der antiken Ausstattung passte, war die topmoderne Alarmanlage, die Charlotte wenige Wochen vor Angies Eintritt in die Kanzlei hatte installieren lassen. In einer Ecke des Eingangsbereichs blinkten die roten Lämpchen von drei Bewegungsmeldern. Charlotte bestand darauf, dass die Haustür immer verschlossen blieb. Besucher wurden mittels eines elektrischen Türöffners eingelassen. Charlotte Wellington hatte eine Obsession für Sicherheitsvorkehrungen entwickelt, nachdem ein bewaffneter Mann gewaltsam in die Kanzlei eingedrungen war und auf sie geschossen hatte. Sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen.
Angie ging durch den mit Teppich ausgelegten Flur in ihr Büro und stellte ihre große, schwarze Tasche auf den Schreibtisch, auf dem drei Reihen ordentlich gestapelter Akten lagen. Sie legte sich immer die Arbeit nach Dringlichkeit sortiert zurecht, bevor sie abends das Büro verließ.
Auf dem Sideboard hinter ihrem Schreibtisch standen nur zwei Fotos: Das eine zeigte ihre Mutter, wie sie vor dreißig Jahren ausgesehen hatte, und das andere zwei junge Mädchen in identischen blauen Kleidern. Ihre Mutter hatte es vor fünfzehn Jahren geknipst. Angie war damals sechzehn, ihre Schwester zwölf gewesen. Angie lebte zu der Zeit bei ihrem Vater und besuchte ihre Mutter und ihre Schwester nur ab und zu. Es war ein besonderer Tag gewesen, und ihre Mutter war mit ihnen ins Kino und danach in ein Restaurant gegangen. Drei Jahre später war sie gestorben. Angies Vater hatte sich geweigert, das Kind aufzunehmen, mit dem seine Exfrau während einer Affäre schwanger geworden war. Außerdem hatte er gedroht, Angie die finanzielle Unterstützung zu entziehen, falls sie die Schule abbrach, um für Eva zu sorgen. Also kam Angies Halbschwester in eine Pflegefamilie. Bis heute bereute Angie es, sich nicht für Eva eingesetzt zu haben.
Angie zog ihren Mantel aus und hängte ihn auf den Bügel, der an einem Haken an ihrer Bürotür hing. Sie stopfte ihre Handtasche in
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