Das Flüstern der Albträume
die unterste Schreibtischschublade und setzte sich. Ein arbeitsreicher Tag stand ihr bevor. Eingaben mussten geschrieben und Anträge gestellt werden. Sie dachte an Charlotte, die sich jetzt einen lange überfälligen Urlaub auf einer Insel vor Florida gönnte. Heiße Sonne und Sand zwischen den Zehen.
Seufzend nippte Angie an ihrem Ginger Ale und knabberte an einem Cracker, während sie die Formulierungen in einem Beweisantrag durchging, der spätestens morgen gestellt werden musste. Es würde wohl ein langer Tag werden.
Als es klopfte, blickte sie auf und sah Iris Stanford in der Tür stehen. Iris war Ende fünfzig, steckte ihr Haar immer zu einem französischen Knoten hoch und trug elegante Kostüme von Chanel. Sie war im Vorjahr zur Kanzlei gestoßen, nachdem sie entdeckt hatte, dass ihr verstorbener Ehemann all ihr Geld an der Börse verloren hatte. Der doppelte Verlust von Vermögen und Ehemann hätte die meisten Frauen verbittern lassen, nicht jedoch Iris. Sie war in Armut aufgewachsen, wie sie sagte, und verstand zu arbeiten. Inzwischen führte sie das Sekretariat der Kanzlei mit furchterregender Tüchtigkeit. »Sie sehen aus wie eine wandelnde Leiche.«
»Danke. Ich fühle mich auch so.« Zu viel Wein und zu wenig gegessen gestern Abend, aber das hätte sie niemals zugegeben.
Iris musterte sie eingehend. »Die Grippe geht um.«
»Das habe ich gemerkt.«
Iris hielt einen rosafarbenen Telefonzettel in den manikürten Fingern. »Mr Lenny Danvers möchte Sie immer noch sehr dringend sprechen.«
Angie schloss die Augen und massierte sich den Nasenrücken. »Hat er gesagt, was er will?«
»Ich zitiere: ›Ms Carlson wird stinksauer sein, wenn sie nicht erfährt, was ich ihr zu sagen habe.‹«
Angie trommelte mit den Fingern auf den polierten Schreibtisch. »Das ist alles? Ich werde stinksauer sein?«
»Das ist das, was er gesagt hat.«
»Und ich soll jetzt meine Morgenroutine über den Haufen werfen und ihn in meinem Terminplan unterbringen?« Gereiztheit, die von der Übelkeit noch verstärkt wurde, schlich sich in ihre Stimme.
Iris spielte mit dem rosa Zettel. »Bestrafen Sie nicht den Überbringer der Botschaft.«
»Entschuldigung. Können Sie Näheres herausfinden? Ich stürme nicht gleich los, nur weil Mr Danvers ein bisschen Händchenhalten nötig hat.«
»Ich schau mal, was ich tun kann.«
Angies Magen schlingerte. »Sie sind ein Engel.«
»Soll ich Ihnen einen Kaffee bringen?«
»Um Gottes willen, nein. Aber danke.«
Iris blieb zögernd in der Tür stehen und musterte Angie wie eine besorgte Mutter. »Wow, Sie müssen richtig krank sein.«
Angie lächelte, entschlossen, Haltung zu bewahren. »Ich werd’s überleben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Iris’ graue Augen verengten sich. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Nur ein kleiner Infekt. Die Grippe geht um. Wird schon wieder.«
»Natürlich. Die Grippe. Ich komme gleich noch mal.«
Als sie allein war, stützte Angie den Kopf in die Hände und konzentrierte sich auf die vor ihr liegenden Unterlagen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihr revoltierender Magen ließ es nicht zu.
Als Iris wieder erschien, war sie beinahe erleichtert. »Ja?«
»Danvers auf Leitung drei.«
»Okay.« Angie atmete tief durch und nahm den Hörer ab. »Mr Danvers.«
»Wird auch Zeit, dass ich mal durchkomme. Herrgott, Sie sind meine Anwältin.«
»Ich habe Sie mal vertreten, Mr Danvers. Und soweit ich mich erinnere, haben Sie mich wie eine Idiotin dastehen lassen, indem Sie einen Herzanfall simuliert haben. Außerdem gibt es immer noch Rechnungen, die offen stehen.«
»Okay, diesmal ist es kein falscher Alarm. Und Sie kriegen ihr Geld.«
»Was wollen Sie?«
Er senkte seine Stimme ein wenig. »Ich habe Informationen zu einem Mordfall.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Ich kann der Polizei helfen.«
Sie hatte den Eindruck, dass seine Stimme aufrichtig klang. »Erzählen Sie.«
»Nicht am Telefon.«
»Wieso nicht?«
»Hören Sie, jemand hat gerade die Kaution für mich hinterlegt.«
»Und weshalb waren Sie im Gefängnis?«
»Das Übliche. Einbruch.«
»Das ist mindestens das dritte Mal. Wie sind Sie rausgekommen? Die Kaution muss ziemlich hoch gewesen sein.«
»Ganz genau, aber jemand hat sie bezahlt.«
»Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie eine Freundin.«
»Die war es nicht. Die liebt niemanden so sehr.«
»Sie haben einen Schutzengel?« Angie massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.
»Oder der Mörder will,
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