Das Flüstern der Albträume
Richter meinte, er habe genug gelitten. Der besoffene Fahrer hat keinen Tag im Gefängnis gesessen oder auch nur eine Bewährungsstrafe bekommen.«
Eva war angesichts der Wendung des Gesprächs unbehaglich zumute. »Ich fühle mich nicht wohl dabei, über King zu reden. Das ist seine Sache. Er stochert nicht in meinem Leben herum, und ich halte mich aus seinem heraus.«
Sally zupfte an ihrem Sandwich. »Das mag ich an dir, Eva. Du nimmst die Leute, wie sie sind. Du trägst ihnen ihre Vergangenheit nicht nach.«
Garrison und Malcolm blieben so lange am Tatort in Leesburg, bis das örtliche Team der Spurensicherung die Wohnung untersucht hatte und die Leiche abtransportiert worden war. Als Garrison seinen Partner vor der Polizeistation absetzte, war es bereits zweiundzwanzig Uhr. Malcolm wünschte ihm eine gute Nacht und stieg müde in sein eigenes Auto um.
Morgen würde wieder ein langer Tag werden. Mit etwas Glück könnten sie die Bänder der Überwachungskameras durchforsten, um den Mann zu identifizieren, der vor Lisa Blacks Verschwinden neben ihr gesessen hatte.
Als Garrison vom Polizeiparkplatz fuhr, erwog er, beim King’s Pub einen Zwischenhalt einzulegen und mit Eva zu reden. Irgendetwas im Zusammenhang mit ihr ließ ihm keine Ruhe, und er hatte gelernt, solche Gefühle ernstzunehmen. Doch nachdem er seit Montagabend kaum fünf Stunden geschlafen hatte, beschloss er, sich erst ein bisschen auszuruhen, bevor er ihr Fragen stellte.
Garrison hätte alles dafür gegeben, einfach heimfahren und sich aufs Ohr legen zu können, doch er hatte seiner Mutter versprochen, noch vorbeizuschauen. Heute war der Todestag seiner Schwester Debbie, und in den zwanzig Jahren seit ihrem Tod waren Garrison und seine Eltern an diesem Tag immer zusammengekommen, und sei es auch nur für ein paar Minuten.
Debbie war in ihrem vorletzten Highschooljahr gestorben. Sie hatte seit ihrer Geburt an Mukoviszidose gelitten, und die Sorge um ihre Gesundheit war ein steter Kampf gewesen. Während vieler Nächte hatte Garrison an ihrem Bett gewacht und mit ihr gesprochen, wenn ihr das Atmen schwerfiel. Er hatte geglaubt, wenn er bei ihr blieb, würde der Tod sie nicht holen. Immer wieder versicherte er ihr, dass alles gut werden würde. Kurz vor seinem Highschoolabschluss hatte Debbie sich eines Abends schlafen gelegt, und in der Nacht war ihr Herz stehen geblieben. Ihre Mutter hatte sie gefunden und einen Rettungswagen gerufen, doch die Ärzte hatten noch vor ihrer Ankunft im Krankenhaus ihren Tod festgestellt.
Viele hatten gedacht, die Familie würde leicht über Debbies Tod hinwegkommen, da er ja seit ihrer Geburt Teil ihres Lebens gewesen war. Doch sie hatten das Ereignis als genauso unerwartet und tragisch empfunden wie einen Unfall. Die Eltern hatten zu Garrison gesagt, er solle weitermachen wie bisher, und er hatte sich redlich darum bemüht. Trotz allem hatte er in seinem letzten Schuljahr in der Footballmannschaft gespielt, vier Mädchen zum Abschlussball begleitet und jedem, der es hören wollte, Witze erzählt. Seine Mutter hatte sich in ehrenamtliche Arbeit gestürzt, und sein Vater hatte seine Zeit zwischen den Fällen, die er auf den Tisch bekam, und dem Basteln an einem alten Ford aufgeteilt. Mindestens ein Jahr lang hatten sie weiter unter einem Dach gelebt, aber kaum ein Wort miteinander gesprochen.
An Debbies erstem Todestag hatten sie sich gezwungenermaßen zu einem Gedenkgottesdienst zusammengefunden, den die Schule veranstaltet hatte. Als Garrison die Fotostrecke mit Debbies Bildern sah, brach er zum ersten Mal in Tränen aus. Seine Eltern hielten ihn im Arm, während die Traurigkeit wie Gift aus ihm herausfloss.
Seither kamen sie an diesem Tag zusammen, sofern er in der Stadt war.
Er hielt vor dem einstöckigen Backsteinhaus, stieg aus und schlug die Autotür zu. In drei schnellen Schritten war er an der Haustür. Er klopfte, dann öffnete er die Tür. »Mom, Dad, Carrie?«
Seine Mutter steckte den Kopf aus der Küchentür. »Da bist du ja. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
Er durchquerte den Flur und küsste seine Mutter auf die Wange. »Tut mir leid. Aber du kennst ja meinen Job.«
»Also bitte. Ich bin mit jemandem verheiratet, der dreißig Jahre bei der Polizei war.« Sie drückte seinen Arm. »Den Job kenne ich nur allzu gut. Hast du Hunger?«
»Wie ein Wolf.«
»Geh mal rüber in die Garage und schau nach deinem Vater. Er werkelt schon seit Stunden an dem Auto rum und mault, wo du bleibst. Ich bringe
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