Das Flüstern der Albträume
dir einen Teller raus.«
»Danke. Wo ist Carrie?«
»Übernachtet bei Julia. Sie weiß, dass es mir an diesem Tag immer schlecht geht, und hat entschieden, meinem Geflenne dieses Jahr aus dem Weg zu gehen.«
Mark und Eileen hatten Carrie kurz nach ihrem fünften Geburtstag adoptiert. Die Eltern des kleinen Mädchens waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Garrisons hatten noch immer um ihre Tochter getrauert, doch Carrie hatte sich perfekt in ihr Leben eingefügt. Mithilfe des kleinen Mädchens waren die Wunden allmählich verheilt.
Garrison mochte Carrie. Tatsächlich erinnerte sie ihn an Debbie – ihr Hang, die Musik zu laut aufzudrehen, ihr Gerede über Kleider und Jungs und die Art, wie sie seinen Vater umarmte, wenn sie etwas von ihm wollte.
»Carrie hat nicht vergessen, dass du versprochen hast, mit ihr ins Outlet-Zentrum zu fahren.«
Deacon stöhnte. »Ich hatte gehofft, sie würde es vergessen.«
»Die Kleine vergisst nie etwas, was man ihr versprochen hat.«
Bei der Vorstellung, sich mit einer Halbwüchsigen durch das Potomac-Mills-Einkaufszentrum zu quälen, wäre er am liebsten geflüchtet, doch er würde sein Wort halten. »Jetzt weiß ich wieder, wieso ich eigentlich nie etwas verspreche.«
Eileen lächelte. »Ist Sonntag immer noch okay?«
»Ich bin mitten in einem Fall. Kann sein, dass ich es verschieben muss.«
»Bei einem Fall hat sie Verständnis. Aber wenn du damit durch bist und Zeit hast, wird sie es erfahren.«
»Das Mädchen ist der geborene Cop.«
Deacon nahm sich einen Keks von einem Teller neben dem Herd und verließ die Küche durch die Tür, die zur Garage führte. Sein Vater stand an einer mit militärischer Präzision eingerichteten Werkbank. Schraubenzieher hingen der Größe nach sortiert in einer Reihe, und die Ersatzteile befanden sich in kleinen Kästen, die in ordentlichen Großbuchstaben mit schwarzem Filzstift beschriftet waren. Das Auto, das Mark Garrison gerade instand setzte, glänzte, als wäre es eben erst gewaschen worden.
»Wurde auch langsam Zeit«, meinte sein Vater und legte den Vergaser zur Seite. »Kommst du direkt von der Arbeit?«
»Ja.«
Mark bückte sich zu einem kleinen Kühlschrank unter der Werkbank, in dem er Bier lagerte. Das Bier sollte eigentlich vor Eileen, die den Blutdruck ihres Ehemannes mit Argusaugen überwachte, geheim gehalten werden. Doch Eileen war ihrem Mann schon lange auf die Schliche gekommen. Zu tun, als wüsste sie nichts von dem Geheimnis, war zu einem Spiel geworden.
Sein Vater nahm eine der braunen Flaschen heraus, öffnete sie und gab sie seinem Sohn, bevor er sich selbst auch eine nahm. »Kein Wort zu deiner Mutter.«
Um Garrisons Lippen zuckte ein Lächeln. »Niemals.«
Mark hielt die Flasche hoch. »Auf Debbie.«
Garrison stieß mit seinem Vater an und nahm einen tiefen Schluck. Den Moment brauchte er, um die Gefühlsaufwallung in seinem Inneren niederzuringen. Scheiße. Er hatte seine Schwester verloren. »Der Tod wird nie leichter.«
»Nein.«
»Wie geht’s Mom?«
»Du kennst doch Mom. Nach außen hin lächelt sie immer, aber gestern Abend habe ich sie ertappt, wie sie unsere alten Filme angeschaut hat. Wir haben Rotz und Wasser geheult.«
»Welche habt ihr euch denn angeschaut?«
»Erinnerst du dich noch an diesen schrecklichen Strandurlaub, wo es die ganze Zeit geregnet hat und du dich ständig mit Debbie gestritten hast? Du musst damals in der sechsten Klasse gewesen sein.«
In jenem Sommer war es Debbie gut gegangen, daher hatten die Eltern beschlossen, zum ersten Mal einen Familienurlaub zu machen. »Herrgott, sie ist mir in der Woche wahnsinnig auf den Wecker gegangen. Ständig hat sie mir Sachen geklaut, und ich musste dann immer hinter ihr her und sie mir zurückholen.«
»Am letzten Abend habt ihr beiden für eure Mutter ›Happy Birthday‹ gesungen, und ich hab’s gefilmt.«
»Das hatte ich ganz vergessen.« Garrison musste grinsen. »Debbie hatte mir einen Schnurrbart gemalt, während ich schlief.«
Sein Vater lachte. »Die Bezeichnung ›Permanent Marker‹ war wirklich kein Witz. Dass du ihr aus Rache Herzchen auf die Wangen gemalt hast, machte die Sache natürlich nicht gerade besser.«
»Es geschah ihr ganz recht.«
»Und da sitzen dann meine beiden Kinder, sehen aus wie aus dem Zirkus entlaufen und singen für ihre Mutter, so falsch und so laut sie nur können.«
»Ganz schön übel.«
Mark hob die Flasche und trank einen Schluck. »Ach was. Ganz schön toll.« Er
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