Das Flüstern der Albträume
herausbekam, als wenn er schwere Geschütze auffuhr.
Warum also hatte er Eva derart in die Mangel genommen? Warum hatte er die eisige Hülle durchdringen wollen, die sie umgab, und sie zwingen wollen, es mit ihm aufzunehmen? Wieso hatte er sich erleichtert gefühlt, als er den Eindruck bekam, dass sie unschuldig war?
Was hatte Macy neulich gesagt? »Du liebst Rätsel.« Mist. Er brauchte in seinem Leben keine Rätsel mehr. Und doch war die Anziehungskraft nicht zu leugnen, die Eva auf ihn ausübte.
Als er wieder im Gastraum war, sah er Eva an der Theke stehen und Getränke ausschenken. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Hände zitterten. Er hätte ihr sagen können, dass er sie für unschuldig hielt, doch sie hätte ihm nicht geglaubt. Er bezweifelte, dass sie je wieder etwas glauben würde, was er zu sagen hatte.
Es war aber nötig, dass sie ihm glaubte. Sie war der Schlüssel zu diesem Fall, und wenn sein Instinkt ihn nicht trog, stand sie womöglich auf der Opferliste des Killers. Inzwischen bedauerte er, sie so hart angefasst zu haben. Er dachte an ihre Polizeiakte und wie verloren das junge Mädchen auf den Fotos ausgesehen hatte. »Wir sprechen uns bald wieder.«
Eva schüttelte den Kopf. »Sie wollen doch gar nicht reden. Sie wollen eine Verdächtige. Und dafür stehe ich nicht zur Verfügung.«
»Wir sprechen uns wieder. Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, bis der Fall geklärt ist, sind wir aufeinander angewiesen.«
Als er sich zum Gehen umwandte, sah er einen Jungen aus der Küche kommen und hinter die Theke rennen. Der Junge lief direkt zu Eva und gab ihr ein Stück Papier. Ihre versteinerten Züge wurden sanft, und sie nahm sich einen Moment Zeit, um das in Augenschein zu nehmen, was auf dem Zettel stand. Der Junge schien in ihrer Gegenwart zu strahlen. Wer war er? Ihr Bruder? Ihr Sohn?
Über Eva Rayburn galt es noch verdammt viel herauszufinden.
Eva konnte kaum atmen, geschweige denn sich konzentrieren, während sie auf die Zahlenkolonnen starrte, die Bobby aufgeschrieben hatte. Beim Geschichtenschreiben oder Malen war sie nicht so gut, aber sie konnte gut rechnen, und genau damit hatten sie sich heute Nachmittag vergnügt. Sie beide mochten Knobeleien.
Doch mit Garrison in der Nähe, der sie anstarrte, fiel es ihr schwer, auf das zu achten, was Bobby sagte. Als sie hörte, wie die Tür des Pubs auf- und wieder zuging, wagte sie einen kurzen Blick über die Schulter und sah, dass er fort war.
Sie ließ die Schultern sinken. »Das hast du toll gemacht, Bobby. Mir gefällt, wie du die Fünf geschrieben hast. Diesmal ist sie nicht verkehrt herum.«
»Ich habe deine Zahlen ganz oft nachgemalt.«
Der Junge erinnerte Eva an einen trockenen Schwamm. Er sog alles Wissen, was sie ihm bot, begierig auf. Jetzt nahm sie ihm den Stift ab und schrieb fünf weitere einfache Rechenaufgaben auf den Zettel. »Rechne die aus, dann schau ich sie mir an. Und danach machen wir dich bettfertig.«
Ein normales Kind hätte angesichts von Rechenaufgaben und Schlafengehen gemault. Doch Bobby nickte, begierig nach Anerkennung. »Okay.«
»Monstersuchen in zehn Minuten?«
»Ja.«
Die Fügsamkeit des Kleinen brach Eva das Herz. Bobby hatte nicht nur körperlich gehungert, sondern auch seelisch.
Als er wieder in die Küche sauste, wandte sie ihre Aufmerksamkeit den aufgereihten Spirituosen zu und tat so, als würde sie etwas suchen. An ihrem ersten Abend war sie die Flaschen durchgegangen und hatte sie alphabetisch geordnet. Sie wusste von jeder nicht nur, wo sie stand, sondern auch, wie viel noch darin war. Aber sie brauchte einen Vorwand, um ihre Gedanken zu sammeln.
Dass Garrison hierhergekommen war, bedeutete nicht zwangsläufig, dass es wieder so laufen würde wie beim letzten Mal. Sie hatte nichts Falsches getan. Ihre Ankunft während des Brandes war Zufall gewesen. Und wenn er ihr irgendeine Polizistentheorie anhängen wollte, würde sie das nicht zulassen. Sie war kein verängstigtes junges Mädchen mehr. Sie war erwachsen und hatte die meisten Gesetzeswerke gelesen.
Egal, was er ihr zur Last legte, sie würde damit fertig werden.
Dennoch, der Stern. Lisa war genau wie ihr selbst ein Stern in die Haut gebrannt worden. Und Sara ebenfalls. Die Chance, dass ein Mörder einen vierzackigen Stern wie den wählte, der ihre Schulter verunstaltete, war winzig.
Eva nahm ein Tuch und begann, Gläser zu polieren. Sie hatte ihr Möglichstes getan, um auszublenden, was vor Jahren geschehen war. Und größtenteils
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