Das Flüstern der Nacht
uns ein.« Dabei ballte er die Faust, und der offenkundige Stolz,
den er empfand, wurde von sämtlichen anwesenden nie’Sharum geteilt. Jardir stellte sich vor, wie er selbst durch das Labyrinth rannte, bewaffnet mit Speer und Schild, und sein Herz hüpfte vor Freude. Ruhm und Ehre erwarteten ihn auf diesem mit Blut getränkten Sand.
Sie marschierten auf der Krone der wuchtigen Mauer entlang, bis sie zu einer Holzbrücke kamen, die mit einer großen Kurbel hochgezogen werden konnte. Die Brücke führte hinunter zu einer der Labyrinthmauern, die allesamt entweder durch Steinbögen miteinander verbunden waren oder so dicht beieinanderstanden, dass man von einer zur anderen springen konnte. Die Wände im Labyrinth waren viel schmaler als der große Siegelwall, an manchen Stellen weniger als einen Fuß breit.
»Für ältere Krieger ist es gefährlich, auf den Mauern herumzuturnen«, erklärte Qeran, »mit Ausnahme der Aufpasser.« Die Aufpasser waren dal’Sharum aus den Stämmen Krevakh und Nanji. Es handelte sich um Kletterspezialisten, und jeder Mann trug eine zwölf Fuß lange, eisenbeschlagene Leiter bei sich. Die Leitern konnte man aneinander fügen oder einzeln benutzen, und Aufpasser waren so gewandt, dass sie sich auf der obersten Sprosse einer frei stehenden Leiter im Gleichgewicht halten konnten, während sie den Kampfplatz beobachteten. Die Krevakh-Aufpasser waren dem Kaji-Stamm unterstellt, die der Nanji unterstanden den Majah.
»Von jetzt an werdet ihr Jungs ein Jahr lang den Krevakh-Aufpassern helfen, die Bewegungen der alagai zu verfolgen und sie den dal’Sharum ins Labyrinth hinunter zu rufen«, fuhr Qeran fort. »Außerdem fungiert ihr als Boten und lauft hin und her, um Befehle der kai’Sharum zu überbringen.«
Den Rest des Tages verbrachten sie damit, auf den Mauerkronen herumzurennen. »Ihr müsst jeden Zoll des Labyrinths genau so gut kennen wie die Spitzen eurer Speere!«, ermahnte Qeran sie, als sie lospreschten. Die agilen nie’Sharum jauchzten vor Begeisterung, als sie von einer Wand zur anderen sprangen und über die
kleinen Bogenbrücken flitzten. Jardir und Abban lachten, weil dieses ausgelassene Umhertollen ihnen so viel Spaß machte.
Aber Abban mit seiner massigen Gestalt geriet schnell aus dem Gleichgewicht; auf einer schmalen Brücke rutschte er aus und fiel von der Mauer. Jardir bückte sich und versuchte noch, seine Hand zu fassen, aber er war nicht schnell genug. »Nie soll mich holen!«, fluchte er, als ihre Finger sich noch flüchtig streiften und der Junge in die Tiefe stürzte.
Abban stieß ein kurzes Wimmern aus, als er unten aufschlug, aber selbst aus einer Höhe von zwanzig Fuß erkannte Jardir, dass seine Beine gebrochen waren.
Hinter ihm erscholl ein gellendes Lachen wie der misstönende Schrei eines Kamels. Jardir drehte sich um und sah, wie Jurim sich auf sein Knie schlug.
»Abban ist keine Katze, sondern ein Kamel!«, krähte Jurim schadenfroh.
Jardir knurrte ihn zornig an und ballte eine Faust, aber bevor er sie heben konnte, tauchte Exerziermeister Qeran auf. »Denkst du, deine Ausbildung ist ein Spaß?«, donnerte er. Jurim schaffte es nicht einmal, eine Antwort hervorzukeuchen, da schnappte Qeran ihn auch schon bei seinem Bido und schleuderte ihn Abban hinterher. Kreischend sauste er die zwanzig Fuß nach unten, prallte heftig auf dem Boden auf und blieb regungslos liegen.
Der Exerziermeister wandte sich an die anderen Jungen. » Alagai’sharak ist kein Spaß!«, brüllte er. »Lieber sollt ihr alle hier sterben, als dass ihr in der Nacht eure Brüder beschämt!« Die Jungen traten einen Schritt zurück und nickten.
Qeran richtete das Wort an Jardir. »Lauf los und gib Exerziermeister Kaval Bescheid. Er soll Männer herschicken, die die beiden zu den dama’ting bringen.«
»Es ginge schneller, wenn wir sie selbst hintrügen«, wagte Jardir vorzuschlagen, denn er wusste, dass Abbans Schicksal vielleicht von diesen kostbaren Minuten abhing.
»Nur Männer dürfen das Labyrinth betreten, nie’Sharum «, entgegnete Qeran verächtlich. »Und jetzt ab mit dir, sonst müssen die dal’Sharum drei Verletzte wegtragen.«
Jardir pirschte sich so nahe heran wie er sich traute, als die dama’ting nach dem Austeilen der abendlichen Schleimsuppe kam, um mit Exerziermeister Qeran zu sprechen. Er musste sich anstrengen, um ihre leise Stimme zu verstehen.
»Der Knabe Jurim zog sich mehrere Knochenbrüche zu und er hatte starke innere Blutungen, aber er wird
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