Das Flüstern der Nacht
gespannt. Er saß an seinem üblichen Platz in der vordersten Reihe der Gruppe, doch er vermisste Abban, der sonst
immer neben ihm gesessen hatte. Jardir war mit drei jüngeren Schwestern aufgewachsen, und gleich am ersten Tag, als man ihn in den Kaji’sharaj brachte, hatte er sich mit Abban angefreundet. Er fühlte sich irgendwie einsam.
»Die dama erzählen uns, dass der Winddämon in der vierten Schicht von Nies Abgrund haust«, erklärte Qeran den Jungen und deutete mit seinem Speer auf das Bild einer geflügelten Kreatur, das mit Kreide auf die Sandsteinmauer gemalt war.
»Manch einer, wie die Dummköpfe des Majah-Stamms, unterschätzt den Winddämon, weil ihm die schwere Panzerung des Sanddämons fehlt«, fuhr er fort, »aber lasst euch nicht täuschen. Der Winddämon ist weiter von Everams Angesicht entfernt und ein viel heimtückischeres Ungeheuer. Auch an seiner Haut verbiegt sich eine Speerspitze, und weil er so geschwind fliegt, ist er schwer zu treffen. Seine langen Krallen«, mit der Speerspitze zog er die bösartigen Fänge nach, »können einem Mann den Kopf abreißen, bevor er weiß, wie ihm geschieht, und die wie ein Schnabel geformten Kiefer zermalmen mit einem einzigen Biss das Gesicht eines Mannes.«
Er wandte sich den Jungen zu. »So. Was sind seine Schwachstellen?«
Prompt schoss Jardirs Hand in die Höhe. Der Exerziermeister nickte ihm zu.
»Die Schwingen«, rief Jardir.
»Korrekt«, bestätigte Qeran. »Zwar bestehen die Schwingen eines Winddämons aus derselben zähen Membran wie der Rest seiner Panzerung, aber sie spannen sich als dünne Haut über Sehnen und Knochen. Ein kräftiger Mann kann sie mit seinem Speer durchstoßen oder sie mit einer scharfen Klinge absäbeln, wenn die Kreatur auf dem Bauch liegt. Und was sonst noch?«
Wieder meldete sich Jardir als Erster. Der Exerziermeister streifte die anderen Jungen mit einem Blick, aber keiner von ihnen hob seine Hand. Jardir war der Jüngste in der Gruppe, von den nächstälteren
Knaben trennten ihn gut zwei Jahre, aber hier duckten sich alle genauso vor ihm wie in der Essensschlange.
»Am Boden sind sie unbeholfen und langsam«, erklärte Jardir, als Qeran ihm ein Zeichen gab.
»Korrekt«, lobte Qeran. »Wird ein Winddämon zur Landung gezwungen, braucht er einen Anlauf, oder er muss auf einen hohen Punkt hinaufklettern, von dem aus er dann wieder in die Luft springen kann. Und die Engstellen im Labyrinth sind dazu angelegt, um genau das zu verhindern. Die dal’Sharum auf den Mauern versuchen, sie mit einem Netz einzufangen oder in mit Gewichten beschwerten Bolas zu verheddern. Eure Pflicht ist es, den Kriegern, die am Boden kämpfen, jeweils die präzisen Ortsangaben zuzurufen.«
Er musterte die Kinder scharf. »Wer von euch kennt das Signal für ›Winddämon erledigt‹?«
Jardirs Hand flog in die Höhe.
Erst nach drei Monaten gesellten sich Abban und Jurim wieder zu den nie’Sharum . Abban hinkte stark, als er zu den Exerzierplätzen zurückkehrte, und Jardir runzelte besorgt die Stirn.
»Tun deine Beine immer noch weh?«, fragte er.
Abban nickte. »Besonders das eine. Die Knochen mögen ja kräftiger geworden sein, aber dafür sind sie jetzt krumm.«
»Es ist noch zu früh, um Genaues zu wissen«, wehrte Jardir ab. »Mit der Zeit werden sie schon wieder richtig ausheilen.«
»Inevera«, seufzte Abban. »Die Wege Everams sind unergründlich.«
»Bist du bereit, um deinen Platz in der Essensschlange zu kämpfen?«, erkundigte sich Jardir und nickte in Richtung des Exerziermeisters, der den Kessel herbeischleppte.
Abban wurde blass. »Noch nicht, ich bitte dich«, wehrte er ab. »Wenn meine Beine unter mir nachgeben, bin ich für alle Ewigkeit als Schwächling gezeichnet.«
Jardir rümpfte die Nase, aber er nickte. »Warte nur nicht zu lange«, riet er, »denn wenn du überhaupt nicht handelst, ergeht es dir auch nicht besser.« Während sie sich unterhielten, marschierten sie an den Anfang der Reihe. Die anderen Jungen wichen Jardir aus wie Mäuse einer Katze und ließen zu, dass sie sich als Erste die Schalen füllen ließen. Abban erntete ein paar feindselige Blicke, aber keiner traute sich, ihm seinen Platz streitig zu machen.
Jurim kam nicht in den Genuss dieser Annehmlichkeit, und Jardir beobachtete ihn ohne Mitleid, denn sein brüllendes Gelächter, als Abban von der Mauer stürzte, hallte immer noch in seinen Ohren nach. Jurim stakste ein bisschen steifbeinig einher, aber von einem Hinken, wie es nun
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