Das Flüstern der Nacht
wieder genesen«, erklärte sie in einem gelassenen Tonfall, als spräche sie über etwas so Unbedeutendes wie die Farbe von Sand. Ihre Schleier verbargen jede Mimik. »Die Beine des anderen Jungen, Abban, sind an mehreren Stellen gebrochen. Er wird wieder laufen können, aber vielleicht kann er nie wieder rennen.«
»Ist er noch zum Kämpfen zu gebrauchen?«, erkundigte sich Qeran.
»Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, erwiderte die dama’ting .
»Wenn das so ist, dann solltest du ihn lieber gleich töten«, meinte Qeran. »Es ist besser tot zu sein als ein khaffit .«
Die dama’ting drohte ihm mit dem Finger, und der Exerziermeister wich erschrocken zurück. » Du entscheidest nicht, was im dama’ting -Pavillon vor sich geht, dal’Sharum «, zischte sie.
Sofort faltete der Exerziermeister die Hände wie zum Gebet und verneigte sich so tief, dass sein Bart fast den Boden berührte.
»Ich bitte die dama’ting um Vergebung«, murmelte er. »Ich wollte nicht respektlos sein.«
Die dama’ting nickte. »Nein, natürlich nicht«, entgegnete sie. »Du bist ein dal’Sharum -Exerziermeister, und im Leben nach dem Tode wirst du den Ruhm deiner Zöglinge deiner eigenen
Ehre hinzufügen, wenn du unter Everams glorreichsten Kriegern sitzt.«
»Die dama’ting erweist mir zu viel Ehre«, brummte Qeran.
»Dennoch«, fuhr die dama’ting fort, »wird es dir guttun, wenn du daran erinnert wirst, wo dein Platz ist. Bitte Dama Khevat um eine Bestrafung. Zwanzig Hiebe mit dem Alagaischwanz dürften genügen.«
Jardir schnappte nach Luft. Der Alagaischwanz war eine unglaublich grausame Peitsche - drei Lederstreifen, in die über ihre gesamte Länge von vier Fuß Metallstacheln eingeflochten waren.
»Die dama’ting ist zu gütig«, grummelte Qeran, immer noch tief gebeugt. Jardir flüchtete, ehe einer der beiden ihn entdeckte und sich vielleicht fragte, was er gehört hatte.
»Du hast hier nichts zu suchen!«, flüsterte Abban aufgeregt, als sich Jardir unter der Zeltklappe des dama’ting- Pavillons hindurchduckte. »Wenn sie dich erwischen, bringen sie dich um!«
»Ich wollte mich nur davon überzeugen, ob es dir gutgeht«, behauptete Jardir. Das stimmte sogar, doch seine Blicke huschten im Zelt hin und her, in der vagen Hoffnung, irgendwo Inevera zu entdecken. Seit dem Tag, als er sich den Arm gebrochen hatte, war von dem Mädchen keine Spur mehr zu sehen gewesen, aber ihre überwältigende Schönheit hatte er nie vergessen.
Abban betrachtete seine zerschmetterten Beine, die fest mit sich härtenden Gipsverbänden umwickelt waren. »Ich weiß nicht, ob ich je wieder ganz gesund werde, mein Freund«, stöhnte er.
»Unsinn«, versetzte Jardir. »Gebrochene Knochen werden sogar stärker, wenn sie wieder zusammenwachsen. Im Handumdrehen läufst du wieder über die Mauern.«
»Vielleicht«, seufzte Abban.
Jardir biss sich auf die Lippe. »Ich habe dich im Stich gelassen«, stieß er hervor. »Ich hatte versprochen, dich aufzufangen, solltest du jemals stürzen. Bei Everams Licht habe ich es geschworen.«
Abban nahm Jardirs Hand. »Wenn es möglich gewesen wäre, hättest du mir geholfen, daran besteht für mich nicht der geringste Zweifel«, tröstete er seinen Freund. »Ich habe gesehen, wie du versucht hast, nach meiner Hand zu greifen. Es ist nicht deine Schuld, dass ich auf dem Boden landete. In meinen Augen hast du deinen Eid erfüllt.«
Jardir war den Tränen nahe. »Ich werde dich nie wieder im Stich lassen«, gelobte er.
In diesem Moment betrat eine dama’ting die abgetrennte Nische, in der sich die beiden Jungen befanden; schweigend schwebte sie aus einem Bereich im Inneren des Pavillons herein. Sie schaute in ihre Richtung und begegnete Jardirs Blick. Sein Herzschlag geriet ins Stocken und sein Gesicht wurde eiskalt. Es schien, als würden sie sich eine Ewigkeit lang anstarren. Das hinter den dichten weißen Schleiern verborgene Gesicht ließ keine Gemütsregung erkennen.
Schließlich deutete sie mit einer Kopfbewegung auf den Zeltausgang. Jardir, der sein Glück kaum fassen konnte, nickte nur. Er drückte Abbans Hand ein letztes Mal und huschte nach draußen.
»Auf den Mauern werdet ihr Winddämonen begegnen, aber ihr dürft nicht gegen sie kämpfen«, erläuterte Qeran, der vor den nie’Sharum auf und ab schritt. »Das ist die Aufgabe der dal’Sharum , denen ihr dient. Trotzdem müsst ihr möglichst viel über eure Feinde lernen. Es ist wichtig, dass ihr sie versteht.«
Jardir lauschte
Weitere Kostenlose Bücher