Das Flüstern der Nacht
blasse Kreaturen, doch dieser eine hatte sein Fleisch mit Siegeln bedeckt und strahlte grell in einer Aura aus gestohlener Magie.
Viel zu grell. Der Horcling-Prinz war mehrere Tausend Jahre alt, ein Wesen, das gelernt hatte, Vorsicht walten zu lassen, abzuwägen und dann entschlossen zu handeln. So tief im Inneren der Brutstätte konnte er keine Drohnen für einen Angriff herbeirufen, und es widerstrebte ihm, seinen Mimikry zu opfern. Nachdem er den Menschen gesehen hatte, stand für ihn außer Frage, dass er getötet werden musste; doch die Aussicht auf Erfolg vergrößerte sich in den kommenden Zyklen, wenn er weniger geschützt war, außerdem mussten zuerst offene Fragen über seine außerordentliche Macht geklärt werden.
Er ließ sich näher an des Fenster herantragen und nahm die primitiven Grunzlaute und kruden Gesten der menschlichen Rasse in sich auf.
»›Dann hättet Ihr zwei Wachen weniger!‹«, zitierte Ragen mit einem tiefen, volltönenden Lachen. »Ich hatte schon Angst, Euchor würde eine Ader im Kopf platzen! Was hat dich nur geritten, so zu antworten? Ich riet dir, wie ein König aufzutreten, nicht wie ein selbstmörderischer Krasianer!«
»Ich hätte nie damit gerechnet, dass er ein Ehebündnis fordert«, wehrte sich der Tätowierte Mann.
»Euchor weiß ganz genau, dass er keinen direkten Erben mehr hervorbringen wird«, erwiderte Ragen, »deshalb ist es klüger, mindestens
eine seiner Töchter aus Miln wegzuschaffen, bevor sie im Kampf um den Thron die Stadt zugrunde richten. Ganz egal, welches Mädchen Rhinebeck sich aussucht, sie wird wahrscheinlich froh sein, von Miln wegzukommen und die Gelegenheit zu haben, sich in Angiers eine gewisse Machtstellung zu sichern.«
»Rhinebeck wird nie und nimmer darauf eingehen«, prophezeite der Tätowierte Mann.
Ragen wiegte nachdenklich den Kopf. »Das hängt ganz davon ab, wie stark die Bedrohung durch die Krasianer noch wird. Wenn sich deine Warnungen bestätigen und es auch nur halb so schlimm kommt, wie du beschrieben hast, bleibt Rhinebeck vermutlich keine andere Wahl. Wirst du Euchors Buch über die alten Waffen mit ihm teilen?«
Der Tätowierte Mann schüttelte energisch den Kopf. »Ich interessiere mich nicht für die politischen Machenschaften der Herzöge, und ich denke nicht daran, den Männern von Thesa dabei zu helfen, sich gegenseitig umzubringen, während die Krasianer in unser Land einfallen und die Horclinge unsere Siegel attackieren. Ich möchte diese Waffen gegen die Horclinge richten, falls das überhaupt möglich ist.«
»Ich kann mir vorstellen, warum Ronnell dich für den Erlöser hält«, schmunzelte Ragen.
Der Tätowierte Mann warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Sieh mich nicht so an!«, sagte Ragen beschwichtigend. »Ich glaube so wenig wie du, dass du der Erlöser bist. Zumindest weiß ich, dass dir nichts Göttliches anhaftet. Aber vielleicht ist es nur natürlich, dass zu bestimmten Zeiten ein willensstarker, tatkräftiger Mann auftaucht, um uns andere anzuführen.«
Der Tätowierte Mann blickte skeptisch drein. »Mir liegt nichts daran, andere Menschen zu führen. Ich will nur dafür sorgen, dass die Kampfsiegel so weit verbreitet werden, dass sie nie wieder verlorengehen können. Die Leute sollen eigenständig handeln, jeder muss selbst wissen, was er tut.«
Er ging ans Fenster und spähte zum Himmel hinauf. »Noch bevor es hell wird, breche ich morgen früh auf, damit mich keiner …«
Um ein Haar hätte er ihn übersehen, da er den Blick auf den Himmel gerichtet hatte und nicht auf den Boden. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick, und das Bild verschwand, bevor er genauer hinschauen konnte; aber seine durch Siegel verstärkte Sehkraft hatte das Glühen eindeutig wahrgenommen.
Über den Hof pirschte ein Dämon.
Er wirbelte herum, hetzte zur Tür, riss sich im Rennen das Gewand ab und warf es auf den Marmorboden. Bei seinem Anblick stockte Elissa der Atem.
»Arlen, was ist los?«, schrie sie.
Ohne auf sie zu achten hob er den Balken an, der die schwere Eichentür verriegelte, und riss sie auf als wöge sie nichts. Er sprang in den Hof hinaus und sah sich hastig um.
Nichts.
Im nächsten Moment stand auch Ragen in der Tür, in einer Hand einen Speer, am Arm einen Schild mit Siegeln. »Was hast du gesehen?«, wollte er wissen.
Der Tätowierte Mann drehte sich einmal langsam im Kreis, forschte im Hof nach Spuren von Magie und spannte alle seine Sinne an, um eine Bestätigung für das zu finden, was er
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