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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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wenn er in seinem Lied schildert, wie er dich auf der Straße fand, aber ich wurde von Meister Cob aufgeklärt. Du hast dem Felsendämon den Arm abgeschnitten, und als er die Mauer durchbrach, warst du es, der ihn mit einer List in die Falle der Bannzeichner lockte.«
    Der Tätowierte Mann blieb unbeeindruckt. »Na und? Was ist schon dabei? Jeder mit Grundkenntnissen im Bannzeichnen hätte das schaffen können.«
    »Mir fällt niemand ein, dem so etwas schon einmal gelungen wäre«, entgegnete Ronnell. »Und als du den Dämon verkrüppelt hast, warst du erst elf Sommer alt und allein draußen in der Nacht.«
    »Hätte Ragen mich nicht gefunden, wäre ich an meinen Wunden gestorben.«
    »Bevor der Kurier kam, hattest du schon ein paar Nächte überlebt«, gab Ronnell zu bedenken. »Der Schöpfer muss ihn geschickt haben, als deine Prüfung zu Ende war.«
    »Was für eine Prüfung?«, fragte der Tätowierte Mann, doch Ronnell ging nicht darauf ein.
    »Ein Bettlerjunge, der auf der Straße gefunden wird«, fuhr der Bibliothekar fort, »aber neue Siegel nach Miln bringt und der Kunst des Bannzeichnens neuen Auftrieb gibt, noch bevor seine Ausbildung beendet ist!« Er sprach, als sähe er jede dieser Einzelheiten
nun in einem anderen Licht, als fügten sich auf einmal viele kleine Teile zu einem großen Ganzen zusammen.
    »Du hast die Heilige Bibliothek mit Siegeln versehen«, hauchte er voller Ehrfurcht. »Ein Knabe, ein bloßer Lehrling, und dennoch ließ ich dich das wichtigste Gebäude der Welt durch magische Symbole schützen.«
    »Es waren doch nur die Möbel«, wandte der Tätowierte Mann ein.
    Ronnell nickte, als passe er das nächste Teilstück in das Gesamtbild ein. »Der Schöpfer wollte, dass du diese Bibliothek betrittst. Ihre Geheimnisse wurden hier für dich aufbewahrt.«
    »Das ist Blödsinn!«
    Ronnell stand wieder auf. »Bitte, zieh die Kapuze wieder über«, sagte er und ging zur Tür.
    Der Tätowierte Mann warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, dann tat er ihm den Gefallen. Von seinem Studierzimmer aus führte Ronnell ihn in das Hauptarchiv; er bewegte sich so selbstverständlich durch das Gewirr aus Regalen, wie jemand, der eilig sein eigenes Haus durchquert, wenn der Wasserkessel zu pfeifen beginnt.
    Der Tätowierte Mann folgte ihm nicht weniger schnell. Nachdem er jedes Regal, jeden Tisch und jede Bank in dem Gebäude mit Siegeln versehen hatte, fand er sich hier immer noch mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit zurecht. Der Grundriss hatte sich auf ewig in sein Gedächtnis eingeprägt. Bald gelangten sie an einen Bogengang, dessen Durchgang mit einer Kordel abgesperrt war. Ein vierschrötiger Gehilfe stand dort, um Unbefugten den Einlass zu verwehren, und in den Schlussstein über seinem Kopf waren die Buchstaben VR eingekerbt.
    In dem abgetrennten Bereich befanden sich die wertvollsten Schätze des Archivs - Originalbücher aus der Zeit vor der Rückkehr. Sie wurden in Glaskästen aufbewahrt und nur selten herausgeholt, denn Kopien davon hatte man längst angefertigt. Außerdem
gab es hier unzählige Regale, angefüllt mit Nachschlagewerken, Bänden über verschiedene Philosophien sowie Bücher mit Geschichten, die der Oberste Bibliothekar, der stets gleichzeitig hingebungsvoll dem Schöpfer als Fürsorger diente, für so brisant hielt, dass er selbst den Milneser Gelehrten keinen Einblick gestattete.
    Mit Begeisterung hatte der Tätowierte Mann in diesen Büchern gestöbert, als er noch ein Junge war; er machte sich über sie her, wenn die Gehilfen, die die zensierten Werke bewachten, nicht da waren. Er hatte sogar öfter mal einen verbotenen Roman oder ein ungekürztes, nicht überarbeitetes Geschichtsbuch gestohlen, eine Nacht lang darin geschmökert und den Text wieder an seinen Platz zurückgestellt, ehe jemand dessen Fehlen bemerkte.
    Der Gehilfe verbeugte sich tief, als der Fürsorger sich ihm näherte, und Ronnell steuerte auf ein Regal mit zensierten Werken zu. Die Bibliothek enthielt Tausende von Büchern, aber der Herzogliche Bibliothekar wusste, wo jeder einzelne Band zu finden war, und zielsicher, ohne auch nur einen Blick auf den Buchrücken zu werfen, griff er nach einem bestimmten Band. Er drehte sich um und reichte ihn dem Tätowierten Mann. Auf dem per Hand beschrifteten Einband stand: Whaffen ausz der Althen Welth.
    »Das Zeitalter der Wissenschaft kannte schreckliche Waffen«, erklärte Ronnell. »Waffen, die Hunderte oder gar Tausende von Menschen töten konnten. Kein

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