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Das Flüstern der Nacht

Das Flüstern der Nacht

Titel: Das Flüstern der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter V. Brett
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Gemeinschaft der Menschen, an die der Tätowierte Mann aus tiefstem Herzen glaubte.
    Er blätterte die Seiten um, bis er eine bestimmte Passage fand, und fing an zu lesen:
     
    »In der gesamten Schöpfung gibt es keinen Mann, der nicht dein Bruder, keine Frau, die nicht deine Schwester, und kein Kind, das nicht das deine ist.

    Denn alle leiden unter dem Fluch, die Reinen wie die Sünder gleichermaßen, und alle müssen sich miteinander verbünden, um der Nacht zu widerstehen.«
     
    Der Tätowierte Mann klappte das Buch mit einem leisen Knall zu. »Welchen Preis habe ich für die Siegel verlangt, Fürsorger? Dass Euchor die Hilflosen aufnimmt, die vor seiner Tür stehen? Welchen Nutzen könnte ich daraus ziehen?«
    »Du könntest mit Rhinebeck unter einer Decke stecken«, erwiderte Ronnell. »Vielleicht bezahlt er dich dafür, dass du ihm die Bettler vom Hals schaffst, die südlich des Grenzflusses zu einem Problem geworden sind.«
    »Wie kannst du nur so reden, Fürsorger!«, sagte der Tätowierte Mann verächtlich. »Du suchst nach Ausflüchten, um die Gebote deines eigenen Kanons nicht befolgen zu müssen!«
    »Warum bist du hierhergekommen?«, wollte Ronnell wissen. »Wenn du gewollt hättest, hättest du die alten Kampfzeichen an jeden Beliebigen in Miln weitergeben können.«
    »Das ist bereits geschehen«, klärte der Tätowierte Mann ihn auf. »Weder du noch Euchor können ihre Verbreitung verhindern.«
    Ronnel sah aus wie vom Donner gerührt. »Wieso erzählst du mir das alles? Keerin bricht erst morgen auf. Ich könnte dem Herzog immer noch raten, sein Versprechen, den Flüchtlingen Aufnahme zu gewähren, zurückzunehmen.«
    »Aber du wirst es nicht tun.« Betont umständlich stellte der Tätowierte Mann den Kanon auf den Messingständer zurück.
    Ronnell runzelte die Stirn. »Was willst du von mir?«
    »Ich möchte mehr über diese Kriegsmaschinen erfahren, die Euchor erwähnte.«
    Ronnell holte tief Luft. »Und wenn ich mich weigere, dir etwas zu sagen?«
    Der Tätowierte Mann hob und senkte die Schultern. »Dann gehe ich ins Archiv und suche mir die Bücher selbst heraus.«

    »Die Archive sind niemandem zugänglich, der nicht vom Herzog eigens dazu ermächtigt wurde.«
    Der Tätowierte Mann zog seine Kapuze herunter. »Auch mir nicht?«
    Staunend betrachtete Ronnell die Tätowierungen. Er schwieg eine geraume Weile, und als er dann die Sprache wiederfand, zitierte auch er einen Vers aus dem Kanon. »Denn Zeichen wird er tragen auf seiner bloßen Haut …«
    »Und die Dämonen werden seinen Anblick nicht ertragen und in Schrecken vor ihm fliehen«, beendete der Tätowierte Mann für ihn das Zitat. »In dem Jahr, als ich diese Bibliothek mit Siegeln versah, hast du mich diese Passage auswendig lernen lassen.«
    Ronnell starrte ihn lange an und versuchte, sich die Siegel und die vergangenen Jahre wegzudenken. Plötzlich blitzte Verstehen in seinen Augen auf. »Arlen?«, keuchte er.
    Der Tätowierte Mann nickte. »Du hast mir dein Wort gegeben, dass ich für den Rest meines Lebens freien Zutritt zur Bibliothek hätte«, erinnerte er den Fürsorger.
    »Ja, sicher … ja, sicher …«, begann Ronnell, doch dann verstummte er. Er schüttelte den Kopf, wie um ihn zu klären. »Wie konnte ich das nur übersehen?«, murmelte er.
    »Was hast du übersehen?«, hakte der Tätowierte Mann nach.
    Zu seiner maßlosen Verblüffung fiel Ronnell vor ihm auf die Knie. »Du bist der Erlöser, der zu uns gesandt wurde, um uns von dem Fluch zu befreien!«
    Der Tätowierte Mann musterte ihn unwirsch. »Das habe ich niemals gesagt. Du kanntest mich, als ich noch ein Junge war! Ich war eigensinnig und unbedacht. Habe nie einen Fuß in ein Heiliges Haus gesetzt. Ich warb um deine Tochter, dann ging ich fort und brach unser Versprechen.« Er beugte sich nahe an den Fürsorger heran. »Und eher fresse ich Dämonenscheiße als zu glauben, dass die Menschheit den ›Fluch‹ verdient hat.«

    »Natürlich«, pflichtete Ronnell ihm bei. »Der Erlöser muss an das Gegenteil glauben.«
    »Ich bin nicht der verdammte Erlöser!«, schrie der Tätowierte Mann; dieses Mal zuckte der Bibliothekar nicht zurück, er starrte ihn nur aus großen, staunenden Augen an.
    »Doch, der bist du«, beharrte Ronnell. »Nur so lassen sich die Wunder erklären, die du bewirkt hast.«
    »Wunder?«, wiederholte der Tätowierte Mann verdutzt. »Hast du Bitterkraut geraucht, Fürsorger? Von welchen Wundern sprichst du?«
    »Keerin mag ja singen, was er will,

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