Das Flüstern der Nacht
gesehen hatte.
»Ein Dämon ist auf dem Hof«, erwiderte er. »Ein sehr mächtiger. Bleib hinter den Siegeln.«
»Das solltest du besser auch tun!«, rief Elissa. »Komm ins Haus, ehe mein Herz stehen bleibt.«
Der Tätowierte Mann gab ihr keine Antwort, sondern durchkämmte aufmerksam den Hof. Innerhalb von Ragens Mauern befanden sich Gesindehäuser sowie Gärten und Stallungen. Es gab jede Menge Verstecke. Er stahl sich durch die Dunkelheit, wobei er alles klar und deutlich sah, sogar noch besser als bei Tageslicht.
In der Luft hing eine Präsenz wie ein hartnäckiger Gestank, doch sie war nicht körperlich und unmöglich zu orten. Seine Muskeln spannten sich, machten sich bereit, jederzeit den Kampf aufzunehmen.
Aber nichts rührte sich. Er durchsuchte das Anwesen von einem Ende zum anderen, ohne etwas zu finden. Hatte seine Einbildung ihm vielleicht doch einen Streich gespielt?
»Was entdeckt?«, fragte Ragen, als er zurückkehrte. Der Gildemeister stand noch in der Tür, hinter den schützenden Siegeln, aber er würde keinen Moment zögern, aus der sicheren Deckung hervorzutreten.
»Rein gar nichts«, erwiderte der Tätowierte Mann mit einem Achselzucken. »Vielleicht habe ich mich geirrt.«
Ragen grunzte. »Bei Horclingen kann man nicht vorsichtig genug sein.«
Der Tätowierte Mann nahm Ragens Speer, als er das Haus wieder betrat. Der Speer eines Kuriers war auf der Straße sein treuester Gefährte, und obwohl Ragen seit fast zehn Jahren nicht mehr als Kurier arbeitete, war seine Waffe immer noch gut geölt und scharf.
»Bevor ich gehe, möchte ich den Speer mit Siegeln versehen«, erklärte er. Er warf noch einen Blick nach draußen. »Und gleich morgen früh solltest du dein Siegelnetz prüfen.«
Ragen nickte.
»Musst du wirklich schon so bald wieder aufbrechen?«, fragte Elissa.
»In der Stadt ziehe ich zu viel Aufmerksamkeit auf mich, außerdem möchte ich den Horcling, wenn mich denn einer bis hierher verfolgt hat, nicht wieder anlocken«, erwiderte der Tätowierte Mann. »Es ist besser, wenn ich mich noch vor Sonnenaufgang auf den Weg mache und das Morgentor passiere, sobald es geöffnet wird.«
Elissa schien nicht erfreut zu sein, aber sie drückte ihn an sich und küsste ihn. »Wir erwarten von dir, dass du uns wieder
besuchst, ehe noch einmal zehn Jahre vergehen«, warnte sie ihn.
»Ihr könnt mit mir rechnen«, versprach der Tätowierte Mann. »Mein Ehrenwort.«
Nachdem der Tätowierte Mann sich kurz vor Anbruch der Morgendämmerung von Ragen und Elissa verabschiedet hatte, fühlte er sich so wohl wie seit Jahren nicht mehr. Sie hatten sich geweigert, zu Bett zu gehen, und waren die ganze Nacht mit ihm aufgeblieben; sie erzählten ihm, was sich seit seinem Fortgehen in Miln alles ereignet hatte und fragten ihn nach Einzelheiten seines Lebens. Er unterhielt sie mit Geschichten über die Abenteuer, die er in der ersten Zeit seiner Kuriertätigkeit erlebt hatte, aber mit keiner Silbe erwähnte er, was ihm in der Wüste zugestoßen war, als Arlen Strohballen starb und der Tätowierte Mann geboren wurde. Auch über die darauffolgenden Jahre schwieg er sich aus.
Dennoch gab es mehr als genug Anekdoten, um den Rest der Nacht zu füllen. Er schaffte es kaum, das Haus vor dem Ton der Morgenglocke zu verlassen, und er musste traben, um sich weit genug von der Villa zu entfernen, damit die Leute, die anfingen, ihre Türen und Fensterläden zu öffnen, nicht misstrauisch wurden.
Er lächelte. Vermutlich hatte Elissa von vornherein geplant, ihn so lange aufzuhalten, dass er die Morgenglocke verpasste und gezwungen wäre, einen Tag länger zu bleiben, aber trotz aller Tricks war es ihr nie gelungen, ihn einzusperren.
Die Wachen am Tagestor streckten noch die Morgensteifheit aus ihren Armen und Beinen, aber die Torflügel standen weit offen, als er ankam. »Anscheinend ist heute jedermann schon so früh unterwegs«, rief ihm ein Wächter zu, als er vorbeiritt.
Der Tätowierte Mann fragte sich, was er wohl meinte, doch dann trabte er an dem Hügel vorbei, auf dem er Jaik zum ersten
Mal getroffen hatte, und entdeckte seinen Freund, der auf einem großen Felsblock hockte und auf ihn wartete.
»Sieht aus, als hätte ich es gerade noch rechtzeitig geschafft«, eröffnete Jaik das Gespräch. »Ich musste gegen die Sperrstunde verstoßen, um so früh hier sein zu können.«
Der Tätowierte Mann glitt von Schattentänzer herunter und ging zu ihm. Jaik machte sich nicht die Mühe, aufzustehen oder eine
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