Das Flüstern der Nacht
auch nicht, was über sie gekommen ist.«
Rojer streckte ihr die Zunge heraus und drehte behutsam den letzten Wirbel zwischen Daumen und Zeigefinger seiner verstümmelten Hand, während er mit dem anderen Daumen an der Saite zupfte.
»Ich hab’s!«, brüllte er schließlich. »Halt den Wagen an!«
»Rojer, bevor es dunkel wird, müssen wir noch einige Meilen zurücklegen«, entgegnete Leesha. Rojer wusste, dass jeder Moment, den sie fernab vom Tal des Erlösers verbrachte, an ihren Nerven zerrte; sie sorgte sich um die Bewohner, wie eine Mutter beunruhigt war, wenn sie ihre Kinder nicht im Blickfeld hatte.
»Nur für eine Minute«, bettelte Rojer. Leesha schnalzte missbilligend mit der Zunge, doch sie tat ihm den Gefallen. Gared und Wonda zügelten ebenfalls ihre Pferde und schauten neugierig zum Karren hinüber.
Rojer stellte sich auf den Kutschbock und schwenkte ausgelassen die Fiedel und den Bogen. Er klemmte sich das Instrument unter das Kinn, streichelte mit dem Bogen die Saiten und entlockte ihnen ein nachhallendes Summen.
»Hört euch das an!«, schwärmte er. »Glatt wie Honig. Verglichen damit war Jaycobs Fiedel ein Kinderspielzeug.«
»Wenn du es sagst, Rojer«, seufzte Leesha.
Rojer runzelte kurz die Stirn und begegnete ihrer Bemerkung mit einem eleganten Schwenk seines Bogens. Er hatte die zwei verbliebenen Finger weit abgespreizt, um eine bessere Balance zu finden, und der Bogen lag in seiner Hand, als sei er ein Teil von ihr. Übermütig ließ er ihn über die Saiten tanzen. Rojer ließ die Musik aus seiner Fiedel emporsteigen, und sie riss ihn mit wie ein Wirbelwind.
Arricks Medaille hing an seinem Hals, er trug sie unter seinem farbenfrohen Hemd auf der nackten Haut, weil ihm das ein angenehmes Gefühl verschaffte. Nun löste sie keine schmerzlichen Erinnerungen mehr aus, sondern sie spendete ihm Trost und Sicherheit, diente als Mittel, die zu ehren, die für ihn gestorben waren.
Er stand aufrechter, wenn er wusste, dass er die Medaille bei sich hatte.
Dies war nicht der erste Talisman, den Rojer mit sich herumschleppte. Jahrelang hatte er ein winziges Püppchen aus Holz und Bindfaden, mit einer goldenen Haarlocke seines Meisters obendrauf, in einer Geheimtasche im Gurtband seiner bunten Hose verwahrt. Davor war es eine Puppe gewesen, die seine Mutter darstellen sollte, mit einer Locke ihres roten Haares auf dem Kopf.
Doch das Medaillon gab ihm das Gefühl, dass sowohl Arrick als auch seine Eltern über ihn wachten, und durch seine Fiedel sprach er zu ihnen. Er spielte von seiner Liebe, von seiner Einsamkeit und seinem Bedauern. Er erzählte ihnen all die Dinge, die er ihnen zu Lebzeiten nicht hatte mitteilen können.
Als seine Musik schließlich verstummte, starrten Leesha und die anderen ihn mit glasigen Augen an wie verzauberte Horclinge. Erst nach ein paar Momenten des Schweigens schüttelten sie die Köpfe und kamen wieder zu sich.
»So etwas Schönes habe ich noch nie gehört«, hauchte Wonda. Gared gab einen Grunzer von sich, und Leesha betupfte sich mit einem Taschentuch die Augen.
Der Rest der Reise zum Tal des Erlösers war von Musik begleitet. Rojer fiedelte in jeder Minute, in der er nicht anderweitig beschäftigt war. Er wusste, dass sie alle zu denselben Problemen zurückkehrten, die auch schon vor ihrem Aufbruch existiert hatten, allerdings mit Hilfszusagen des Herzogs und der Jongleurgilde. Und das Medaillon, das er an seinem Hals trug, gab ihm Hoffnung, dass sämtliche Schwierigkeiten gelöst werden konnten.
Sie waren noch eine Tagesreise vom Tal entfernt, als ein Flüchtlingsstrom die Straße verstopfte. Viele Leute kampierten in Zelten
und Bannzirkeln mitten auf dem Weg. Leesha wusste sofort, dass es Laktonianer waren, ein zumeist untersetzter Menschenschlag, klein und rundgesichtig, mit der Haltung von Leuten, die mehr daran gewöhnt sind, über ein schwankendes Bootsdeck zu laufen als auf festem Boden.
»Was ist passiert?«, fragte Leesha die erste Person, die sie erreichten, eine junge Mutter, die hin und her wanderte, um ihren brüllenden Säugling zu beruhigen. Als Leesha vom Karren sprang, starrte sie sie aus hohlen, stumpfen Augen an. Dann sah sie Leeshas Schürze mit den vielen Taschen, und plötzlich blickte sie lebhafter drein.
»Bitte!« Sie hielt ihr das schreiende Kind entgegen. »Ich glaube, er ist krank.«
Leesha nahm das Baby auf den Arm und tastete es behutsam mit den Fingerspitzen ab, um den Puls und die Temperatur zu fühlen. Schließlich
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