Das Flüstern der Nacht
konnte.
Das ist ja toll gelaufen, dachte der Tätowierte Mann sarkastisch, als er davonmarschierte. Weit ging er nicht; er setzte sich hin, lehnte den Rücken gegen einen Baum und schloss die Augen. Mit seinem geschärften Gehör registrierte er das Scharren von Raupen auf den Blättern. Wenn Renna ihn brauchte, würde er es hören und ihr zu Hilfe eilen.
Er verwünschte die Naivität, die ihn als Kind daran gehindert hatte, Harl zu durchschauen. Als Ilain sich seinem Vater angeboten hatte, hielt er sie für unsagbar gemein, doch sie tat es aus reinem Überlebensinstinkt, und genauso hatte er damals in der krasianischen Wüste gehandelt.
Und Renna … wenn er mit seinem Vater zurückgefahren wäre, anstatt fortzulaufen, nachdem seine Mutter starb, hätten sie sie mit auf ihren Hof genommen, wo sie vor ihrem Vater sicher war. Harl hätte sich nicht an ihr vergangen, und die Tragödie, die mit ihrer Verurteilung zum Tod endete, wäre niemals geschehen. Ihre eigenen Kinder hätten mittlerweile das Verlobungsalter erreicht.
Aber er hatte sich von Renna abgewendet; auch diesen Weg, der ihm zu Glück verholfen hätte, war er nicht gegangen, und als Folge davon hatte sich ihr Leben in einen entsetzlichen Alptraum verwandelt.
Es war falsch gewesen, sie nun mitzunehmen. Egoistisch. Er hatte nur an sich selbst gedacht, als er sie in diese Existenz hineinzog,
weil er hoffte, sie würde ihm helfen, geistig gesund zu bleiben. Renna hatte sich für seinen Weg entschieden, weil sie glaubte, sie habe nichts mehr zu verlieren; doch noch war es für sie nicht zu spät. Nach Tibbets Bach konnte sie nicht mehr zurück, aber wenn er sie in das Tal des Erlösers brachte, würde sie sehen, dass es immer noch gute, anständige Menschen auf der Welt gab, Leute, die bereit waren zu kämpfen, ohne all das aufzugeben, was sie überhaupt erst zu Menschen machte.
Doch selbst auf der direktesten Route war das Tal immer noch über eine Woche von der Burg entfernt. Er musste Renna so schnell wie möglich in die Zivilisation zurückbringen, Bevor sie total verwilderte und ihre raubtierhaften Instinkte überhandnahmen.
Flussbrücke konnten sie in weniger als zwei Tagen erreichen. Von dort aus konnten sie weiterreiten nach Kricketlauf, Angiers und Bauerngarten, bevor sie im Tal ankamen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wollte er sie dazu zwingen, sich in die Gesellschaft von Menschen zu begeben; es war wichtig, dass sie sich tagsüber, wenn die Sonne schien, beschäftigte, anstatt den halben Tag zu verschlafen und nachmittags Dämonenspuren zu verfolgen, eine Routine, zu der sie beide übergegangen waren.
Er verabscheute die Vorstellung, selbst so viel Zeit unter Menschen zu verbringen, doch daran ließ sich nichts ändern. Rennas Wohl ging vor. Wenn die Menschen seine Tätowierungen sahen und anfingen, sich das Maul darüber zu zerreißen, dann sollten sie ruhig.
Euchor hatte sein Wort gehalten und ließ Flüchtlinge über den Grenzfluss. Aber Rizon hatte die gesamte Ernte verloren, die Sommersonnenwende war vorbei, und für alle brachen schwere Zeiten an. Flussbrücke quoll zu beiden Seiten des Stroms über, als eine
stetig anwachsende Zeltstadt voller Flüchtlinge sich vor der Stadtmauer auszubreiten begann, nur notdürftig durch Siegel geschützt und voller Schmutz und Armut. Angewidert rümpfte Renna die Nase, als sie hindurchritten, und ihm war klar, dass die Szene nicht dazu geeignet war, sie mit der Zivilisation zu versöhnen.
Auch die Anzahl der Torwachen hatte sich vergrößert; die Wächter musterten sie argwöhnisch, als der Tätowierte Mann und Renna sich ihnen näherten. Kein Wunder. Da er trotz der heißen Sonne von Kopf bis Fuß in Gewänder gehüllt war, erregte der Tätowierte Mann überall Aufmerksamkeit. Und Renna in ihren anstößigen Lumpen, dazu die Haut voller verblassender Schwarzstängelflecken, bot auch keinen vertrauenerweckenden Anblick.
Aber der Stadtwächter, der sich nicht in die Freundlichkeit selbst verwandelte, sobald man ihm eine Goldmünze unter die Nase hielt, musste dem Tätowierten Mann erst noch begegnen, und seine Satteltaschen waren voll davon. Und deshalb befanden sie sich schon bald innerhalb der Befestigungsmauern und brachten ihr Pferd in einem Stall unweit eines Gasthof unter, in dem es hoch herging. Es war früh am Abend, und die Stadtbewohner kehrten von einem harten Arbeitstag heim.
»Hier gefällt es mir nicht«, murrte Renna. Dauernd spähte sie um sich, als die Menschen zu
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