Das Flüstern der Nacht
Hunderten an ihnen vorbeidrängten. »Die eine Hälfte der Leute ist am Verhungern, und die andere Hälfte sieht uns scheel an, als hätten sie Angst, wir wollten sie ausrauben.«
»Mach dir nichts draus«, erwiderte der Tätowierte Mann. »Ich muss wissen, was im Land vorgeht, und diese Informationen kriege ich nicht in der Wildnis. Gewöhne dich ruhig für eine Weile an das Stadtleben.« Renna schien über die Antwort nicht glücklich zu sein, aber sie hielt den Mund und nickte.
Um diese Stunde herrschte in der Schankstube des Gasthofs eine Menge Betrieb, doch das größte Gedränge fand am Tresen statt, und im hinteren Bereich entdeckte der Tätowierte Mann
einen kleinen freien Tisch. Er und Renna nahmen Platz, und kurz darauf kam eine Bedienung zu ihnen. Sie war jung und recht ansehnlich, doch um ihre Augen lag ein trauriger, müder Zug. Ihr Kleid war im Großen und Ganzen sauber, wenn auch stark abgetragen. An ihrer Hautfarbe und der Form ihres Gesichts erkannte der Tätowierte Mann sofort, dass sie aus Rizon stammte; vermutlich war sie mit dem ersten Flüchtlingsstrom gekommen und hatte das große Glück gehabt, Arbeit zu finden.
Am Nebentisch saßen ein paar lärmende Kerle. »Ay, Milly, noch eine Runde!«, grölte einer von ihnen und schlug der Bedienung mit einem hörbaren Klatschen auf den Hintern. Das Mädchen zuckte zusammen, schloss die Augen und holte einmal tief Luft, bevor sie ein gekünsteltes Lächeln aufsetzte und sich halb zu den Männern umdrehte. »Kommt gleich, so sicher wie der Tag, Jungs«, erwiderte sie fröhlich.
Ihr Lächeln erlosch, als sie das Wort wieder an Renna und den Tätowierten Mann richtete. »Was wollt ihr?«
»Zwei Bier und was zu essen«, bestellte der Tätowierte Mann. »Außerdem ein Zimmer, wenn noch eines frei ist.«
»Wir haben freie Zimmer«, erklärte das Mädchen. »Aber bei den vielen Leuten, die hier durchreisen, ist der Preis ziemlich hoch.«
Der Tätowierte Mann nickte und legte eine Goldmünze auf den Tisch. Dem Mädchen traten fast die Augen aus dem Kopf; wahrscheinlich hatte sie in ihrem Leben noch kein echtes Gold gesehen. »Das dürfte wohl reichen für die Mahlzeit und Getränke für den ganzen Abend. Den Rest kannst du behalten. Und an wen wende ich mich wegen des Zimmers?«
Das Mädchen schnappte sich die Münze, ehe einer der anderen Gäste sie sehen konnte. »Rede mal mit Mich, dem gehört der Gasthof«, erklärte sie und zeigte auf einen großen Mann mit hochgekrempelten Ärmeln und einer weißen Schürze, der hinter dem Tresen schwitzte, während er sich abmühte, sämtliche Krüge,
die man ihm entgegenhielt, mit Bier zu füllen. Als der Tätowierte Mann sich zu Mich umdrehte, sah er gerade noch, wie das Mädchen die Münze im Halsausschnitt ihres Kleides verschwinden ließ.
»Danke«, sagte er zu ihr.
Das Mädchen nickte. »Gleich bringe ich euch euer Bier, Fürsorger.« Sie verneigte sich und wieselte davon.
»Bleib hier und sprich mit niemandem, während ich uns ein Zimmer besorge«, wandte sich der Tätowierte Mann an Renna. »Ich bleibe nicht lange weg.« Sie nickte, und er entfernte sich vom Tisch.
Am Tresen standen die Leute Schulter an Schulter. Die Männer wollten sich noch ein paar Krüge Bier gönnen, bevor sie sich für die Nacht hinter ihren Siegeln verschanzten. Der Tätowierte Mann musste sich hinten anstellen und darauf warten, dass der Gastwirt von ihm Notiz nahm, doch als Mich in seine Richtung blickte, ließ er rasch noch eine Goldmünze funkeln, und so wurde er umgehend bedient.
Mich sah aus wie ein ehemals kräftiger Mann, der Fett angesetzt hat. Er mochte vielleicht noch imstande sein, einen streitlustigen Gast an die frische Luft zu setzen, aber der geschäftliche Erfolg und das zunehmende Alter schienen ihm den Elan der Jugend geraubt zu haben.
»Ein Zimmer«, bat der Tätowierte Mann und gab ihm die Münze. Er zog eine weitere aus seiner Geldkatze und hielt sie hoch. »Und Neuigkeiten aus dem Süden, falls du welche hast. Ich komme gerade aus Tibbets Bach.«
Mich nickte, aber er kniff die Augen zusammen. »Da hinten passiert doch nie was Neues«, meinte er und beugte sich ein wenig vor, um unter die Kapuze des Tätowierten Mannes zu linsen.
Der Tätowierte Mann trat einen Schritt zurück, und sofort rückte der Gastwirt wieder von ihm ab; sein Blick huschte nervös zu der Münze, als befürchtete er, sie könnte verschwinden.
»Dieser Tage reden alle nur über den Süden, Fürsorger«, behauptete Mich. »Seit
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