Das Flüstern der Schatten
wieder unsicher wurde und das mit Schroffheit zu kaschieren versuchte. Seine Fragen, davon war er jetzt überzeugt, waren ihr unangenehm, weil es Dinge gab, über die sie nicht reden wollte.
»Von welcher neuen Firma haben Sie eben gesprochen?«, fragte er.
»Was meinen Sie?«
»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie mit Michael in New York leben möchten, wenn mit der neuen Firma alles klappt.«
Sie schwieg und musterte ihn so gründlich, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Wer sind Sie wirklich?«, fragte sie aufgebracht. »Wer hat Sie geschickt? Sie wollen ein Freund Michaels sein und wissen nichts von Lotus Metal?«
»Ich bin ein Freund der Owens.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Sie lügen.«
»Sie können mir vertrauen.«
»Ich vertraue niemandem.«
»Sie haben Michael Owen vertraut, hoffe ich.«
»Ich war mir sicher, dass von ihm keine Gefahr für mich ausgeht, das ist schon viel wert. Wenn Sie das Vertrauen nennen, habe ich ihm vertraut.«
»Dann tun Sie mir leid.«
Anyi blickte an die Decke und rollte mit den Augen. »Kein Mitleid bitte. Danke.«
»Welchen Anlass gebe ich Ihnen, so misstrauisch zu sein?«
»Seit wann braucht Misstrauen einen Anlass?«
»Wenn man von Natur aus misstrauisch ist, natürlich nicht.«
»Was reden Sie für einen Unsinn. Von Natur aus misstrauisch. Das gibt es gar nicht. Haben Sie keine Kinder? Die sind nicht misstrauisch, vorsichtig vielleicht, aber nicht misstrauisch. Es sei denn, sie werden dazu gemacht.«
»Was hat Sie misstrauisch gemacht?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an.« Sie stand vom Bett auf, schleuderte das Kissen gegen die Wand und ging ins Wohnzimmer.
Paul folgte ihr.
Sie stand in der Küche mit dem Rücken zu ihm.
»Wovor haben Sie Angst?«
»Wer sagt Ihnen, dass ich Angst habe?«
»Das sehe ich in Ihren Augen.«
Sie drehte sich um, und Paul bemerkte zum ersten Mal die Schatten unter ihren Augen, die viel zu groß und dunkel waren für ihr Alter. »Wenn Sie so schlau sind und sich mit den Augen einer Chinesin so gut auskennen, dann müssten Sie sich Ihre Frage selber beantworten können.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu: »Und jetzt bitte ich Sie zu gehen. Ich möchte allein sein.«
Paul hatte plötzlich das Bild von ihr und Victor Tang vor Augen. Tang hatte seinen breiten Arm um sie gelegt und lächelte in die Kamera, sie sah auf dem Foto angespannt aus, drehte den Kopf zur Seite, als wollte sie sich aus seiner Umklammerung befreien.
»Wie gut kennen Sie Victor Tang?«
»Überhaupt nicht.«
»Sie lügen. Ich habe auf Michaels Computer Fotos gesehen, auf denen hält Victor Tang Sie fest im Arm.«
»Ich will allein sein. Gehen Sie!«
»Er ist es, vor dem Sie Angst haben.«
»Hören Sie nicht, was ich gesagt habe? Gehen Sie endlich«, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Küchentresen. Es sollte eine Geste der Entschlossenheit sein, aber wie bei jeder Demonstration der Stärke offenbarten sich dahinter vor allem Furcht und Schwäche. Paul wusste, dass er Recht hatte, er sah es an ihren verkrampften Händen, an ihrem steifen Körper, in ihren Augen.
»Warum haben Sie Angst vor Victor Tang?«, sagte er langsam und deutlich und wiederholte die Frage noch einmal auf Englisch.
Stille. Sie blickte ihn nicht mehr an, sondern starrte auf den Boden.
Paul dachte an den toten Michael, an David, an Christine, an den angeblichen Mörder, der ein falsches Geständnis unterschrieben hatte.
»Michael Owen«, platzte es aus ihm heraus, »ist ermordet worden. Seine Leiche liegt im Keller des Polizeipräsidiums. Ich will wissen, wer ihn umgebracht hat, und dafür brauche ich Ihre Hilfe.«
Sie starrte ihn an, ihre schmalen Augen weiteten sich, ihr Mund formte einen stillen Schrei, ihre Knie gaben nach, ihre Fäuste umklammerten den Küchentresen, und für einen kurzen Augenblick dachte Paul, sie würde das Bewusstsein verlieren. Er breitete seine Arme aus, wollte sie auffangen, falls sie zu Boden stürzte, aber dann sah er, wie sich ihr Körper wieder versteifte, sah, wie ein Mensch in seinem Beisein in wenigen Sekunden versteinerte. Ihr Gesicht zuckte noch kurz so unkontrolliert wie ein Fisch, den das Wasser an Land gespült hat. Sie biss sich auf die Unterlippe, Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Paul machte einen Schritt auf sie zu, um sie in den Arm zu nehmen.
»Rühren Sie mich nicht an«, flüsterte Anyi, ohne ihn anzuschauen.
Paul dachte an Elizabeth Owen und die Verzweiflung in ihrem Gesicht, als er ihr sagen musste, dass
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